Süddeutsche Zeitung

Erik ten Hag:Amsterdam hat zufällig vorgesorgt

  • Wie überall im Profifußball debattieren sie auch in den Niederlanden darüber, wann und ob die Saison in der Liga fortgesetzt werden soll. Ajax Amsterdam ist klar für einen Abbruch.
  • Die Gesundheit stehe "über allem, da dürfen auch wir nichts machen, was ein anderes Signal sendet", sagt Trainer Erik ten Hag.
  • In den Niederlanden sind die TV-Gelder vom Sender Fox für zwölf Jahre garantiert, egal, ob gespielt wird oder nicht - die Verluste sind damit nun geringer.

Von Benedikt Warmbrunn

Erik ten Hag ist ein analytischer Mensch, in seiner Heimat, den Niederlanden, werfen sie ihm manchmal vor, ein bisschen zu deutsch zu denken. Alles muss strukturiert und nachbesprochen und noch einmal und noch einmal überprüft werden, und da er manchmal etwas grimmig schaut, könnte man ten Hag leicht für einen strengen Menschen halten. Doch das Analysieren ist für ihn eher eine Leidenschaft, eine Sucht, manchmal lassen ihn die Szenen eines Fußballspiels tagelang nicht los, manchmal wochenlang nicht. Was in normalen Zeiten eine Last sein kann, all die unaufgearbeiteten Szenen als permanentes Hintergrundrauschen, sieht ten Hag zurzeit als Chance. Jeden Tag setzt er sich zu Hause an seinen Schreibtisch, klappt den Laptop auf, und dann verschickt er Videos, mal an Spieler, mal an die ganze Mannschaft.

Die Filmchen verteilt der Trainer aber nicht, weil er endlich wieder Fußball spielen will. Er sendet sie an seine Spieler, weil er erst einmal nicht Fußball spielen will - und weil er deshalb daran arbeitet, dass in dieser fußballlosen Zeit keiner in seiner Mannschaft die Freude daran verliert, ein Teil von Ajax Amsterdam zu sein.

Wie überall im Profifußball debattieren sie auch in den Niederlanden darüber, wann und ob die Saison in der Eredivisie fortgesetzt werden soll. Am Dienstagabend hatte Ministerpräsident Mark Rutte alle öffentlichen Veranstaltungen bis zum 1. Juni verboten, den Profi-Fußball hatte er ausdrücklich miteingeschlossen. Eric Gudde, der Direktor des nationalen Fußballverbandes KNVB, sagte dann am Mittwoch, dass der europäische Fußballverband Uefa die Frist für das Saisonende bis zum 3. August verlängert habe; Gudde hofft daher, Mitte Juni wieder den Ligabetrieb aufnehmen zu können. Er wollte aber auch ein vorzeitiges Saisonende nicht ausschließen. Doch was in der Bundesliga als verfrüht kritisiert worden wäre, wird in den Niederlanden kritisiert, weil es zu zögerlich ist.

"Warum geht es in diesem Moment um Geld und nicht um die Volksgesundheit?", fragt Marc Overmars, der Ajax-Sportdirektor, im Telegraaf. "Ich hatte gehofft, dass der KNVB eine eigenständige Entscheidung trifft, aber stattdessen versteckt man sich hinter der Uefa." Er vergleiche, fügt Overmars hinzu, "die Uefa und den KNVB im Moment ein bisschen mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump vor einer Woche: Die Wirtschaft ist wichtiger als das Coronavirus".

So emotional wie sein Sportdirektor würde sich ten Hag nie äußern, dazu ist der 50-Jährige dann wirklich viel zu nüchtern. Aber auch ten Hag hat die Situation in der Corona-Krise analysiert, er hat alle Möglichkeiten überprüft, und nach all diesem Überlegen sagt er am Telefon: "Ich habe so ein Gefühl, dass wir diese Saison nicht mehr spielen werden. Wenn du logisch nachdenkst, gibt es eigentlich keine andere vernünftige Lösung." Die Gesundheit stehe "über allem, da dürfen auch wir nichts machen, was ein anderes Signal sendet".

Dass sich der Trainer und der Sportdirektor des wichtigsten niederländischen Vereins so vehement für einen Saisonabbruch aussprechen, das hängt schon auch damit zusammen, dass sie sich ernsthaft um die Volksgesundheit sorgen, wie Overmars das sagt. Es hängt aber auch damit zusammen, dass Ajax Amsterdam im Vergleich zu vielen anderen europäischen Spitzenvereinen von der Corona-Krise nicht ganz so heftig getroffen wird. In den Niederlanden sind die TV-Gelder vom Sender Fox für zwölf Jahre garantiert, egal, ob gespielt wird oder nicht. Die Summen sind zwar niedriger, aber sie sind bereits überwiesen, und so werden die fehlenden Einnahmen aus dem Ticketverkauf und Ähnlichem einigermaßen abgefedert - zumal auch diese Summen niedriger sind als beispielsweise in der Bundesliga. Die wichtigste Erlösquelle für Ajax sind seit Jahren Spielerverkäufe, und dort haben sie zuletzt unbewusst vorgesorgt für Krisenzeiten.

Justin Kluivert - wechselte im Sommer für 17,25 Millionen Euro zur Roma. Frenkie de Jong - ging 2019 für 75 Millionen Euro nach Barcelona. Mathijs de Ligt - wechselte 2019 für ebenfalls 75 Millionen Euro nach Turin. Und bereits im Winter hat Ajax den nächsten Spieler verkauft, der Flügelstürmer Hakim Ziyech geht im Sommer zum FC Chelsea, angeblich für 50 Millionen Euro. Es ist vielleicht einer der profitabelsten Verkäufe der Vereinsgeschichte - in Zeiten der Corona-Krise würde Ajax nur noch einen Bruchteil kassieren. Viele Millionen hat Ajax zwar auch schon wieder für Spieler ausgegeben, aber eben noch lange nicht alles, und so haben sie sich mit ihrem Modell ein Polster angespart, das sie in diesen Wochen schützt vor ernsteren wirtschaftlichen Nöten.

Eigentlich, sagt ten Hag, sei er davon ausgegangen, dass er im Sommer "fünf, sechs Spieler" verkaufen werde, nun vermutet er, dass es weniger werden. "Dadurch haben wir dann weniger Transfergewinn", doch als Trainer sieht er auch darin einen Vorteil: "Wir haben dann aber auch eine Mannschaft, die gefestigt ist." Eine Mannschaft, die also erstmals seit Jahren keinen großen sommerlichen Umbruch verkraften muss. Eine Mannschaft, die nicht nur in den Niederlanden wieder um den Titel mitspielen soll (Titelverteidiger Ajax ist gerade Erster), sondern die auch in der Champions League vielleicht für eine Überraschung sorgen kann, so wie in der vergangenen Saison, in der Ajax im Halbfinale erst in der Nachspielzeit gegen Tottenham den Einzug ins Finale verpasst hatte.

Den Fußball, den ten Hag spielen lassen will, will er also in der kommenden Saison spielen lassen, und weil er weiß, dass das noch ganz schön weit weg ist, verschickt er nun täglich Videos.

Zum Wochenbeginn hatte er erstmals alle Spieler in den Verteiler genommen, es ging allgemein um die Spielphilosophie von Ajax, um das Verteidigen mit allen elf Spielern, um das Angreifen mit allen elf Spielern. "Auf den Videos wird das in Szenen angedeutet, 16 Sequenzen vielleicht", sagt ten Hag, "bei vier sieht man, was wir besser machen müssen - beim Rest aber, was schon gut funktioniert. Dazu haben wir eine schöne Umgebung geschaffen, mit ein bisschen Musik." Die Videos sollen ein Wohlfühlklima im Wartezimmer erzeugen. Ten Hag ist stolz darauf, dass Ajax Amsterdam unter seiner Führung wieder einen Stil pflegt, wie ihn Ästheten lieben; Spiele von Ajax sehen manchmal aus wie ein Mosaik, in dem kein Einzelteil zufällig an seinem Platz liegt.

"Die Videos sollen die Spieler daran erinnern, dass wir eine gemeinsame Identität haben", sagt ten Hag. "Die Spieler sollen wieder Lust auf unseren Ajax-Fußball bekommen, Lust auf die Rückkehr, Lust darauf, auf diese Weise Spiele zu gewinnen."

Im nächsten Video, das der Trainer an die gesamte Mannschaft verschicken wird, soll es dann um die Regeln und Prinzipien im Ajax-Spiel beim Pressing gehen. Ein, zwei Videos pro Woche will er verschicken, sagt ten Hag, und er hat genug Material, um auch eine lange Pause überbrücken zu können.

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SZ vom 03.04.2020/ska
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