Fußball in der Corona-Krise:"In wessen Händen sind wir eigentlich?"

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Zu dem Spiel von Bergamo (blau) gegen Valencia reisten fast 2500 spanische Fans an. (Foto: Antonio Calanni/AP)

Ángel Cappa, langjähriger Assistent des ehemaligen argentinischen Nationaltrainers Menotti, kritisiert die Verantwortlichen in der Corona-Krise und findet, der Fußball werde "benutzt".

Interview von Javier Cáceres

Angel Cappa kann sagen, dass ihm der Fußball das Leben gerettet hat, damals, zu Zeiten der Militärdiktatur in Argentinien, in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. "Ich gehörte damals einer Gruppe namens 'Peronismo de base' an - und ich betone deshalb jede Silbe, weil eine mexikanische Zeitung mal schrieb: 'Terrorismo de base'. Wir kämpften gegen die Militärs", sagt er: "Wir druckten Flugblätter, die man heute wohl naiv nennen würde, ich sollte sie verteilen. Ich hatte einen Citroën 13V, lud die Blätter in den Kofferraum und geriet um drei Uhr morgens in eine Straßensperre. Razzia!"

Argentinien sei damals ein Land gewesen, in dem Tausende Oppositionelle "verschwanden", das heißt: gefoltert und getötet, aus Flugzeugen ins Meer geworfen wurden. Als ihm der Polizist gegenübergestanden habe, erinnert sich Cappa, habe er gedacht: Das war's. "Aber der Beamte, der meinen Ausweis prüfte, hat nur gesagt: 'Du bist doch der Cappa, der Fußball gespielt hat?' Er ließ mich laufen. Wer weiß, ob wir heute miteinander reden würden, wenn der Beamte kein Fußballfan gewesen wäre."

Cappa, 73, wurde später Trainer-Assistent von Legenden wie Argentiniens Nationalcoach César Luis Menotti, mit dem er bei der WM 1982 Diego Maradona betreute, und von Jorge Valdano bei Real Madrid. Später war er selbst als Trainer erfolgreich, unter anderem bei River Plate und Huracán. Heute ist er ein renommierter Radiokommentator in Spanien. Vor ein paar Jahren veröffentlichte er das Buch "También nos roban el fútbol" (Auch den Fußball rauben sie uns). "Einen Moment", ruft er in Madrid ins Telefon, "wir versuchen hier, das Coronavirus mit Musik zu vertreiben. Ich muss sie leiser drehen." Kein Problem.

SZ: Herr Cappa, was ist das für ein Gefühl, plötzlich keinen Fußball mehr zu haben?

Ángel Cappa: Ich muss Sie enttäuschen: Woran ich gerade gar nicht denken mag, ist Fußball. Wir haben keinen Fußball mehr? Wir haben kaum noch ein Leben! Wir überleben nur noch, unter anormalen Umständen, sind daheim eingeschlossen, um dieser Pandemie zu entgehen.

Trifft der Satz des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano, wonach der Fußball nur die wichtigste Sache unter den weniger wichtigen Dingen des Lebens ist, mehr denn je zu?

Ich bin mit dem Satz überhaupt nicht einverstanden. Der Fußball ist, denke ich, sogar sehr wichtig! Ein anderer Schriftsteller, Alberto Moravia, fragte einmal sinngemäß: Wer behauptet denn, dass das Spiel für den Menschen weniger wichtig wäre als alles andere? Das Ludische ist wichtig! Das Theater ist ein Spiel, ebenso der Film, die Literatur, die Poesie, die Malerei... Und der Fußball auch. Der Sport zählt für mich zu den Grundbedürfnissen des Menschen.

In was für einem Zustand war der Fußball vor dem Ausbruch dieser Krise?

Er war ein Business. Ein Geschäft. Das sieht man in dieser Krise ganz klar.

Inwiefern?

Denken Sie an das Spiel zwischen Atalanta Bergamo und Valencia, das nun als Beschleuniger der Pandemie in Norditalien gilt. Oder an die Spiele, die ohne Rücksicht auf Spieler, Zeugwarte und andere stattfanden, die um das Spiel herum arbeiten...

Oder auch an den Staatspräsidenten Ihrer Heimat Argentinien, der noch jüngst darum warb, Spiele ohne Publikum stattfinden zu lassen?

Übersetzt hieß das für mich: Sollen die sich doch anstecken! Das bewegt sich für mich auf dem Niveau von Boris Johnson, der sagte, man solle alles laufen lassen. Da fragt man sich doch: Verdammt! In wessen Händen sind wir eigentlich? In England und Argentinien hat der Fußball, muss ich sagen, gut reagiert. Und gesagt: Wir spielen nicht!

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass man "auch den Fußball geraubt" hat?

Der Neoliberalismus hat uns über Jahrzehnte Güter geraubt, die der Allgemeinheit gehörten. Bildung, Gesundheitswesen, Sozialleistungen und eben auch den Sport. Für Menschen aus bescheideneren Verhältnissen war der Fußball ein Ort, an dem sie Stolz schöpfen konnten. Was sie mit einem Ball anstellten, gab ihnen Prestige, den Respekt Dritter, Selbstachtung.

Und das ist weg?

Nicht völlig. Aber der Kapitalismus hat sich den Fußball einverleibt. Er hat ihn in eine Ware verwandelt und ihm seine Werte übergestülpt. In der Logik des Kapitalismus zählt nur der Sieg, und dieser hat nur einen Zweck: Produkte zu verkaufen.

Aber der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen sind ohne den Ehrgeiz, zu siegen, doch unvorstellbar.

Natürlich ist ein Sieg ein Ziel. Aber es darf nicht das einzige sein. Denn das generiert Doping und Korruption, um nur die direktesten Folgen zu nennen. Denken Sie an die Leichtathletik, ein einstmals reiner Sport. Oder an den Fußball. An Juventus zum Beispiel, wo alles dem Sieg untergeordnet war und in Doping und gekauften Schiedsrichtern endete... Das Spiel hat einen Wert an sich. Seine Essenz verdient einen Respekt, der verloren gegangen ist. Ich hatte das große Privileg, mit Menschen zu sprechen, von denen man viel über das Spiel lernen konnten. Alfredo Di Stéfano...

... der große Weltstar der Fünfzigerjahre, der Real Madrid groß machte...

Genau. Er erzählte immer, dass sie zu seiner Zeit Elfmetertore nie feierten. Weil es ein Tor war, das man aufgrund eines Vorteils erzielte. Solche Werte verschwinden, weil das Primat des Verkaufs gilt: Ein Buch ist wichtig, wenn die Auflage hoch ist, und dann muss jeder das Buch zu Hause haben, egal, wie gut es ist. Ein Film ist wichtig, wenn er viel Geld einspielt. Ein Fußballer ist wichtig, wenn er einen Sieg erzielt. Andernfalls sind das für das System, in dem wir leben, Produkte ohne Wert.

Ángel Cappa, 73, begleitete César Luis Menotti als Assistent unter anderem beim FC Barcelona und den Boca Juniors, später arbeitete er als Chefcoach in Spanien und Mexiko. (Foto: imago)

Sie meinen im Sinne Ihres früheren Chefs César Luis Menotti, es müsse darum gehen, gut Fußball zu spielen. Was ist das denn, gut Fußball spielen?

Das ist eine Frage, die mich so verstört, dass ich angefangen habe, sie nicht zu beantworten. Weil sie entweder aus boshafter Absicht oder völliger Unkenntnis gestellt wird.

Wie meinen Sie das?

Entweder es wird eine Diskrepanz zwischen der Schönheit und der Effizienz hergestellt oder man weiß nicht mehr, was das ist: gut Fußball spielen. Früher war das keine Frage. Und man musste keine philosophische Theorie entwickeln, man musste nicht Aristoteles oder Platon sein. Als wir als Kinder auf dem Hof Mannschaften zusammenstellten, wählten wir nicht denjenigen, der uns Gleichgewicht im Mittelfeld gab. Sondern den besten Kicker. Denjenigen, der etwas Besonderes bereithält.

Und damit die Menschen berührte?

Es geht um die Emotion. Etwas, was dich nicht berührt, kann nicht gut sein. Ein Fallrückzieher im Mittelfeld, ein unnützer Tunnel bewirkt keine Emotion. Die Schönheit muss effizient sein. Und die Schönheit ist das Effizienteste, was es im Fußball gibt.

Heutzutage wird die Effizienz im Fußball häufig durch Statistiken erfasst.

Das ist weitgehend lächerlich. Der Fußball ist etwas Qualitatives. Und Qualität ist nicht statistisch messbar. Es ist, als würde man das Talent eines Schriftstellers daran bemessen, wie viele Wörter er für eine Novelle benutzt hat. Oder als würde man ins Prado-Museum gehen und ausmessen, ob Goya oder Velázquez eine größere Fläche bemalt hat. Wenn man Zahlen hat, muss man sie zumindest in einen Kontext setzen. Wie in anderen Bereich auch.

Zum Beispiel?

Wenn hier in Spanien die Rede davon war, dass x Arbeitsplätze geschaffen wurden, war damit noch lange nicht gesagt, ob die Verträge für drei Tage, drei Wochen, drei Monate galten oder die Bezahlung unterhalb des Mindestlohns lag. Oder ob direkt Sklavenjobs geschaffen wurden.

Sehen Sie noch Dinge im Fußball, die Sie berühren?

Natürlich. Wenn Sie eine gute Mannschaft, einen guten Spielzug, einen guten Spieler sehen. Di Stéfano sagte immer: Der Fußball ist sehr schwierig - bis einer auftaucht, der ihn spielen kann. Ich bin immer auf der Suche danach. Ich genieße die Mannschaften von Pep Guardiola, beim FC Barcelona und beim FC Bayern früher, jetzt bei Manchester City.

Obwohl Sie meinen, dass der Fußball eine Rolle als Stütze des Systems spielt?

Der Fußball ist benutzt worden, so wie das Kino, das Theater und viele andere Dinge auch, um die Menschen zu betäuben und sie dazu zu treiben, im Leben zu "triumphieren". Übersetzt ins Leben heißt das ja nur: ein größeres Haus, eine Ferienvilla, Geld, ein Luxusauto zu haben ... Letztlich verzerrt das den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Aber brauchen wir nicht auch den Fußball als eine Art der Zerstreuung - gerade in einer extremen Krisensituation, wie wir sie jetzt haben?

Natürlich hilft uns der Fußball, glücklicher zu sein. Und das gilt auch wieder für das Theater, die Musik, die Literatur. Doch das heißt nicht, dass wir die Augen vor anderen Dingen verschließen dürfen.

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Genau auf diesem Bedürfnis baut die Fußball-Industrie ihre Hoffnung, bald wieder in die Stadien zurückkehren zu können. Das Verlangen der Menschen nach Zerstreuung werde so groß werden, dass ein Druck entstehe, wieder Fußball stattfinden zu lassen.

Aber jetzt sind wir in einer Situation, in der wir erst einmal so viele Leben retten müssen wie möglich. Erst dann können wir schauen, was wir neu aufbauen.

Der Chef der Deutschen Fußball-Liga, Christian Seifert, gestand unlängst unverblümt ein, dass man "ein Produkt" herstelle. Unter ausdrücklichem Verweis darauf, dass man genau das bisher offiziell immer geleugnet hatte. Ruft die Krise vielleicht ein Umdenken in der Branche hervor, eine größere Ehrlichkeit?

Ich bin da skeptisch. Wir reden nicht nur über die Fußballfunktionäre, sondern die Bosse von Nike, Adidas, Puma, Coca-Cola, den großen TV-Sendern. Sie werden weitermachen und weitermachen müssen, weil wir im Kapitalismus leben und sie ein Produkt verkaufen müssen.

Werden die Fans die Zahlen, die im Fußball kursieren, stärker als bisher in Frage stellen?

Ich hoffe das, aber ich glaube nicht daran. Dass ein Trainer 25 Millionen Euro verdient und ein Spieler 40 Millionen, halte ich für eine Barbarei. Aber Obacht: Im Fußball herrscht die gleiche Ungleichheit wie in der ganzen Gesellschaft. Es gibt in Spanien 6000 Berufsfußballer. Wie viele Spieler verdienen diese barbarischen Summen? Selbst wenn es 200 sein sollten, und die Zahl ist überzeichnet: Es wäre übertrieben.

Die großen Klubs drängen ihre Spieler, ihre Arbeiter, gerade zum Gehaltsverzicht.

Weil sie kein Geld einnehmen. Und immerhin versuchen die Besitzer der Klubs, mit den Spielern darüber zu reden. Einfache Arbeiter werden ohne Rücksichtnahme entlassen. Hier in Spanien hat man längst den Überblick verloren, wie viele Arbeitsverträge aufgelöst worden sind.

Es gibt eine Reihe von Fußballern, die nun mit millionenschweren Spenden von sich reden machen - auch solche wie Cristiano Ronaldo oder Messi, die dem Fiskus enorme Summen geschuldet haben.

Aber es ist doch kein Vergleich zu den multinationalen Konzernen, die ihre Gewinne in Steuerparadiese bringen und in den Ländern, in denen sie operieren, kaum Abgaben leisten. Stellt das etwa jemand in Frage? Die Großverdiener unter den Profis haben dieses Modell nur repliziert, weil sie auch zu Unternehmen geworden sind und sich der gleichen Instrumente bedienen.

Auch Sie persönlich sind Teil des Systems.

Wir alle sind Teil des Systems! Schon wenn ich in die Bar gehe und eine Coca-Cola bestelle, bin ich Teil des Systems. Natürlich lebe ich im Widerspruch, weil ich diese Gesellschaft ändern will.

Ist ein anderer Fußball möglich?

Dafür müsste man erst den Kapitalismus ändern. Doch das ist nicht so einfach. Der Schriftsteller José Luis Sampedro, ein Wirtschaftswissenschaftler, sagte, das Problem sei, dass Kapitalismus zu einem sakralen Wort geworden ist, als wäre er naturgegeben. Er ist nicht naturgegeben. Es ist nur eine der Organisationsformen, die sich die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte gegeben hat. Ich glaube zutiefst, dass wir ein anderes, gerechtes demokratisches System brauchen. Nicht nur im Fußball. Hier in Spanien sind die öffentlichen Krankenhäuser auch überlastet, weil sie von den konservativen Regierungen zerlegt wurden. Weil sie privatisiert, weil Bedienstete entlassen wurden. Deswegen hoffe ich, ja, dass wir anfangen nachzudenken.

© SZ vom 08.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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