Copa Libertadores:Monumentaler Tanz

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"Als würde man uns den Tango rauben": Die Verlegung des Superclásico nach Madrid war für Argentinien ein schwerer Schlag. Doch nach River Plates Triumph über Erzfeind Boca Juniors zeigen sich gute Sieger und gute Verlierer.

Von Ralf Itzel, Madrid

Am Dienstag reisen die Sieger von Spanien direkt nach Abu Dhabi weiter, Weltmeister können sie jetzt ja auch noch werden. Die Fans zu Hause müssen sich also noch etwas gedulden.

Eigentlich hätte der Club Atlético River Plate den Triumph in der südamerikanischen Champions League gegen den Erzfeind Boca Juniors vor zwei Wochen mit 60 000 Verbündeten im eigenen Estadio Monumental in Buenos Aires landen und bejubeln wollen, aber dann lief es anders. "Wir kommen schon noch", versprach der glückliche Kapitän Leonardo Ponzio, frisch geduscht und mit der Goldmedaille um den Hals, weit nach Mitternacht in 10 000 Kilometern Entfernung in der Mixed Zone des Estadio Santiago Bernabéu, wo sonst Toni Kroos oder Sergio Ramos Rede und Antwort steht.

Während sich die Verlierer mit verweinten Augen auf den weiten Heimweg machten, erlebt River die Odyssee als Spazierfahrt, da machen die paar Tage in den Emiraten, wo der Champion jetzt für das Halbfinale der Klub-WM gesetzt ist, auch nichts mehr aus. Davon wird Ponzio, bald 37, noch den Enkeln erzählen: Wie River nach über hundert Jahren Rivalität zum ersten Mal im Endspiel der Copa Libertadores auf Boca traf. Und wie die Weiß-Roten den Pokal dann fernab vom eigenen Erdteil erobern mussten, auch das war neu in 58 Jahren Wettbewerbsgeschichte. 5:3 in Addition aus Hin- und Rückspiel (2:2/3:1), ein Finale so episch und pompös wie eine Seifenoper.

In Buenos Aires: Erst tropische Regenfälle und ein Tag Verzögerung im Stadion La Bombonera (Pralinenschachtel), die rasante Partie endete 2:2. Zwei Wochen später der Angriff Radikaler auf den Boca-Bus am Monumental, dem am grünen Tisch der Beschluss folgte, Argentinien das Spiel zu nehmen, was Lateinamerika als Entmündigung empfand. "Ein Schlag in die Volksseele", kommentierte zum Beispiel der Trainer des Klubs Huracán, es sei, als würde man Argentinien den Tango rauben.

In Madrid: Etwa 4000 Sicherheitskräfte, Leibesvisite jedes Zuschauers, und dann eine Show auf den Rängen, wie sie das Bernabéu noch nie erlebte und Argentinien seit Jahren nicht. Weil dort seit 2013 Gästefans in den Arenen verboten sind, waren zum ersten Mal beide Gruppen wieder zusammen beim Fußball. Die Blau-Gelben (Boca) im Süden des Stadions lieferten sich ohrenbetäubende Gesangsduelle mit den Weiß-Roten (River) im Norden. Nach Rivers Sieg brannte dann ein einziges rotes bengalisches Feuer im zweiten Stock der Kurve. Mehr Zwischenfälle gab es in Madrid nicht. Pure südamerikanische Leidenschaft, die keine weiteren Leiden schuf.

Im globalen Schaufenster Bernabéu, in das aus aller Welt rund 200 Millionen Fernsehzuschauer blickten, gelang auch auf dem Rasen eine Hommage an das Fußballland Argentinien, das Künstler wie Di Stéfano, Maradona oder den nun in Madrid mitfiebernden Messi hervorbrachte, sowie Philosophen wie Menotti oder Valdano.

Es war kein feiner Trainerfußball auf höchstem Niveau, aber was beide an Herzblut vergossen, reicht in Europa für eine halbe Saison. Und natürlich brauchte das letzte Kapitel dieses mehr als einen Monat währenden Doppel-Endspiels am Schluss eine Verlängerung. Boca war per Konter in Führung gegangen (Benedetto, 43.), River hatte nach einer Pass-Stafette zum 1:1 ausgeglichen (Pratto, 67.). Mit der Auswärtstorregel hätte River nach dem 2:2 bei Boca damit triumphiert. Aber die Regel war in Madrid außer Kraft, was eine dramatische extra halbe Stunde ermöglichte.

Zwei Kolumbianer übernahmen Hauptrollen. Bocas Wílmar Barrios sah zu Recht Gelb-Rot (92.), River besann sich, angeführt vom 25-jährigen Juan Fernando Quintero, seiner spielerischen Vorteile. Der begnadete Linksfüßer, nach einer Stunde eingewechselt, hatte bereits den Ausgleich vorbereitet, erzielte dann das 2:1 selbst (108.) und lancierte schließlich Pity Martínez beim 3:1 (120.+2).

Boca hatte Sekunden zuvor den Pfosten getroffen und fast ein Elfmeterschießen erzwungen. Zu neunt. Beim eingewechselten früheren Real-Madrid-Akteur Fernando Gago war erneut die Achillessehne gerissen (117.). Der 32-Jährige humpelte vom Rasen und feuerte die Kapitänsbinde zu Boden. Wechseln konnte Boca nicht mehr. Torwart Andrada war in den letzten Minuten Stürmer, so konnte Martínez alleine auf das leere Tor zulaufen.

River war ein guter Sieger und Boca ein guter Verlierer, kein böses Wort fiel über den Rivalen. Die Juniors hatten ja versucht, das Rückspiel zu verhindern. Als Guillermo Barros Schelotto nun gefragt wurde, ob weitere Schritte beim Internationalen Sportgerichtshof geplant seien, bewies der Trainer Größe: "Für mich ist es vorbei", sagte er leise, aber bestimmt, "River hat gewonnen." Ob Argentinien eine Lehre aus den Vorfällen ziehen werde? "Hoffentlich - aber vielleicht sind wir unverbesserlich."

Was Siegercoach Marcelo Gallardo dachte, blieb in Madrid ein Geheimnis. Für das Finale gesperrt, musste der 42-Jährige auf die Tribüne - und verweigerte Südamerikas Verband Conmebol im Gegenzug den Gefallen, der Presse auch nur ein Wort zu schenken. In einen dicken Anorak gehüllt, sah man ihn nur beim Gratulieren der Spieler. Und der Assistenztrainer war auch keine Hilfe. Was er und Gallardo nach dem Schlusspfiff als Erstes besprochen hätten, wollte ein Reporter wissen. "Nichts, wir verstehen uns blind", war Matias Biscays Antwort, "es war eine lange Umarmung, wir haben zusammen geweint."

Für den 1,69 Meter kleinen Gallardo, Spitznamen: Muñeco (Puppe) und Napoleon, ist es die dritte Copa Libertadores mit River Plate, eine gewann er als Spieler, nun zwei in vier Jahren als Coach. Kenner trauen ihm den Sprung nach Europa zu. Erst einmal aber wird er in Abu Dhabi zwei gute Partien zeigen wollen, eine davon womöglich im Finale gegen Real Madrid.

Kapitän Ponzio findet, dieses Abenteuer solle man nun vor allem genießen. Und sich anschließend zu Hause am Rio de la Plata von den Fans hochleben lassen: "An Weihnachten oder Silvester, keine Ahnung, aber wir werden mit euch feiern, versprochen!"

© SZ vom 11.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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