Copa Libertadores:Apostel der Auferstehung

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Durch zwei späte Tore von Gabriel Barbosa - früher als "Gabi-No-Gol" verspottet - gewinnt Flamengo Rio de Janeiro gegen River Plate aus Buenos Aires das Finale. Die Wende leitet der 34 Jahre alte Ex-Bremer Diego mit einer Grätsche ein.

Von JAVIER CÁCERES

Zwischen Lima und Barcelona liegen 10 000 Kilometer oder zehn Flugstunden im Passagierflugzeug. Und die kahle, wiewohl sagenhafte Andenkulisse, die sich hinter dem Estadio Monumuental der peruanischen Hauptstadt aufbaut, ist um Welten beeindruckender als alles, was das Camp Nou in Kataloniens Kapitale umrahmt. Aber dennoch lag es am Samstag nahe, in Lima an Barcelona zu denken, an das Camp Nou und an das Jahr 1999, als dem FC Bayern gegen Manchester United in den Schlusssequenzen der Partie noch ein sicher geglaubter Sieg im Champions-League-Finale entglitt. Denn am Samstag tat es CR Flamengo aus Rio de Janeiro, die "rotschwarze Nation", Manchester United nach - und drehte in einem frenetischen Finish das längst verloren geglaubte Finale der diesjährigen Copa Libertadores gegen CA River Plate aus Buenos Aires. Das Team verwandelte in der Nachspielzeit eine 0:1-Niederlage in einen 2:1-Sieg, durch zwei Treffer von Gabriel Barbosa alias "Gabigol", der erst das Schicksal herausforderte und dann seinen Namen reinwusch.

Gabriel Barbosa (rechts) entschied die Copa Libertadores – zur Freude des ehemaligen Bremers Diego (links). (Foto: Daniel Apuy/Getty Images)

Dazu muss man wissen, dass die Welt des Fußballs eine des Aberglaubens ist, eine Welt der Tabus. Niemand weiß es mit absoluter Gewissheit, doch angeblich entstand in Argentinien jene Maxime, die lautet: "La Copa se mira y no se toca", einen Pokal schaut man an und berührt ihn nicht, weil alles andere nur Unglück bringe.

Als aber Gabigol, 23, aus dem Spielertunnel kam und die älteste Trophäe des kontinentalen Klubfußballs vor sich sah, konnte er der Versuchung nicht widerstehen - und strich mit den Fingern über den Pokal. Dann geschah das, was gemäß der Kabale geschehen musste: Flamengo begann stärker, geriet aber nach 13 Minuten durch Rivers kolumbianischen Stürmer Rafael Santos Borré, 24, in Rückstand, und bekam unter anderem wegen der monumentalen Leistung von River-Kapitän und Nürnberg-Legende Javier Pinola die Partie nie in den Griff. Flamengo war entnervt genug, dass der frühere Bayern-Profi Rafinha Charakter zeigte, seinen Charakter, und Pratto ohne jede Chance auf den Ball von hinten in die Beine trat.

Frustrierend verlief das Finale für den früheren Nürnberger Javier Pinola (Nummer 22). (Foto: Henry Romero/Reuters)

Dann wechselte Flamengos Trainer Jorge Jesús den ehemaligen Bremer (und Wolfsburger) Diego ein. Und es zeigte sich, dass dieser trotz seiner 34 Jahre und einer im Juli erlittenen, gerade überstandenen Fußgelenksfraktur genug Fußball in seinen Zehen hat, um ein Spiel auf links zu drehen wie einen Socken. 120 Sekunden vor dem Ende der regulären Spielzeit kam die Krönung: Diego grätschte einen Pass von Pratto ab und wurde so zum Ursprung des Spielzugs zum 1:1 von Gabigol. In der Nachspielzeit erzielte Gabigol das 2:1, wurde zum Apostel der wundersamen, unvergesslichen Auferstehung Flamengos. "Das Spiel war tot, nichts geschah", lamentierte Rivers Enzo Pérez, "aber dann haben wir vergessen, ihm den Gnadenschuss zu verpassen." Das wiederum tat Gabigol, der von Schüssen aus Revolvern viel zu erzählen hat, er wuchs in einer Favela in São Paulo auf. Dass er noch vom Platz gestellt wurde, spielte eine kleine Rolle am Rande: Es dürfte erklären, warum der frühere Wolfsburger Bruno Henrique zum wertvollsten Spieler des Finales gewählt wurde und einen 18-Karat-Ring abschleppte.

Andererseits: Wen interessiert das?

Gabigol hatte es dem unvergleichlichen Zico gleichgetan und Flamengo mit zwei Finaltoren zum kontinentalen Titel verholfen. Zico hatte auf den Tag genau 38 Jahre zuvor zwei Mal getroffen. Anders als Zico nahm sich Gabigol noch Zeit für eine selbstreferenzielle Geste: Nach dem 2:1 zog er sein Hemd aus und zeigte dem Publikum, wie man seinen Namen buchstabiert. "Dieser Augenblick wird sich allen einbrennen, den Flamenguistas und den Brasilianern. Ich habe Geschichte geschrieben", sagte er.

Das hätte man so auch nicht erwarten müssen. Bei Inter Mailand kam er 2016/17 in zehn Spielen auf einen Treffer und wurde als Fiasko gebrandmarkt, "wir nannten ihn Gabi-No-Gol", wunderte sich sein Ex-Trainer Frank de Boer am Samstag als Kommentator von Fox Sports. Bei Benfica erging es ihm mit nur einem Tor aus fünf Partien nicht viel besser. "Gabigol" funktioniert offenbar nur in Brasilien. Zu den Olympischen Spielen in Rio 2016 (bei denen er Gold gewann) kam er mit der Empfehlung von 56 Toren in 155 Spielen für den FC Santos. Nach seiner Rückkehr aus Italien schoss er für den Pelé-Klub weitere 27 Treffer in nunmehr 53 Partien. 2019 explodierte er bei Flamengo: Mit den Finaltoren gegen River schraubte er seine Ausbeute im laufenden Kalenderjahr auf 40 Tore in 54 Partien. Und er sorgte en passant dafür, dass sein Trainer Jorge Jesús, 65, in dessen portugiesischer Heimat in die Galerie der Eroberer eingereiht wurde. Jorge Jesús ist erst der zweite Coach aus Europa, der die wichtigste Klubtrophäe Südamerikas gewonnen hat. Zuvor hatte dies nur der Jugoslawe Mirko Jozic geschafft, 1991 mit dem chilenischen Klub Colo Colo.

Nun steht Jorge Jesús vor der nächsten Herausforderung, ab dem 11. Dezember nimmt Flamengo (wurde am Sonntag auch noch vorzeitig brasilianischer Meister, da Verfolger SE Palmeiras verlor) an der Klub-WM teil. Die Flamenguistas könnten ihren dritten Weltpokal gewinnen. 1981 siegte Flamengo mit Zico gegen Liverpool - und den WM-Titel 2014 halten sie, kein Witz, auch für einen Triumph Flamengos. Wegen des Ausweichtrikots des DFB-Teams, mit dem Brasilien mit 7:1 besiegt wurde, und jenem Foto, auf dem der Kölner Lukas Podolski im Original-Flamengo-Trikot den WM-Pokal in den Händen hielt - und das 2014 zum meistgetwitterten Bild Brasilien wurde. Denn die rotschwarze Nation Flamengos hat geschätzt 40 Millionen Einwohner.

© SZ vom 25.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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