Copa América:Der Brachiale mit dem feinen Fuß

Copa América: Der Mann, der alle mitreißt: Der Chilene Arturo Vidal jubelt nach seinem Tor im Elfmeterschießen gegen Kolumbien.

Der Mann, der alle mitreißt: Der Chilene Arturo Vidal jubelt nach seinem Tor im Elfmeterschießen gegen Kolumbien.

(Foto: Victor R. Caivano/AP)
  • Arturo Vidal will Chile gegen Peru ins Finale der Copa América führen.
  • Es wäre auch ein Zeichen dafür, dass die Mannschaft die Zeiten der Disziplinlosigkeiten hinter sich gelassen hat.

Von Javier Cáceres, Belo Horizonte

Die Rituale der Fankurve bekommt man aus Arturo Vidal nicht heraus. Wer wollte, konnte das dieser Tage beobachten, als Vidal ein Initiierungsritual in der chilenischen Nationalmannschaft mit dem Handy filmte und ins Internet jagte. Nicolás Guerra, 20, hatte sich im Teamhotel der Chilenen bei der Copa América in Brasilien auf einen Stuhl stellen und ein Lied vorsingen müssen, "¡Chuncho hueco!", rief Vidal. "Chuncho" steht für den Uhu, der das Wappen der Universidad de Chile ziert, dem Erzrivalen von Vidals Lieblingsklub Colo Colo und der Verein, bei dem Neuling Guerra spielt. "Hueco" wiederum, wörtlich: hohl, ist eines dieser abschätzigen Synonyme, die eine traditionell homophobe Gesellschaft wie die chilenische wohl erst in Jahrzehnten hinter sich lassen wird. Es steht für: schwul.

In Chiles Medien wurde Vidals Einlassung nicht hinterfragt, sondern als Indiz für die prächtige Stimmung gewertet, die im Kreis der Nationalmannschaft herrsche. Am Mittwoch trifft Chile in Porto Alegre auf Peru, es geht um den Finaleinzug bei der Südamerika-Meisterschaft, die Chile sowohl 2015 als auch 2016 gewann. Danach aber verfehlte Chile die Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Russland 2018, zum steten Hang zu Disziplinlosigkeiten gesellten sich auch interne Konflikte und Überheblichkeit. Eine Zeitlang hatten Chiles Fußballer die Bodenhaftung derart verloren, dass ihre Fans zu den Sternwarten in der Atacamawüste eilen mussten, um einen Blick auf sie zu erhaschen.

Wer mixt den besten Pisco?

Trainer Juan Antonio Pizzi ging, der Kolumbianer Reinaldo Rueda kam - und erdete die Spieler, indem er eine schlichte Wahrheit aussprach: "Er hat uns eingetrichtert, dass wir nicht die zweimaligen Champions von Amerika sind, sondern die Mannschaft, die in der WM-Qualifikation rausgeflogen ist", sagte Vidal vor dem Clásico del Pacífico, dem Duell benachbarter Pazifik-Anrainer, deren Einwohner seit Ewigkeiten darüber streiten, wer den besseren Pisco destilliert und mit dem Traubenmost den besseren Sour mixt.

Zur Klärung dieser Frage könnte Arturo Vidal, 32, einiges beitragen, aber wichtiger ist er den Chilenen als Symbolfigur für die erfolgreichste Generation ihres Fußballs. Nicht nur, weil er wegen seiner markanten Frisur und seiner Tattoos den höchsten Wiedererkennungswert hat. Sondern wegen seiner von ärmsten Verhältnissen geprägten Vita, die für ihn den Fußball zum Mittel im täglichen Überlebenskampf werden ließ, aber auch wegen seiner Verfehlungen, die sogar in einen unvergessenen Flirt mit dem Tode mündeten.

Spieler, mit denen Vidal zerstritten ist, wurden nicht berufen

Nach einer alkoholschwangeren Casino-Nacht bei der Copa América 2015 in Chile setzte er sich mit schwerer Zunge und schwerem Fuß in einen fabrikneuen Ferrari; und weil er zu spät ins Teamquartier zu kommen drohte, gab er Gas und landete im Straßengraben. Der Wagen kam wenige Meter vor einem tiefen Abhang zum Stehen. Totalschaden. Aber: Nach einer Nacht in der Ausnüchterungszelle und Debatten zwischen der damaligen Staatschefin Michelle Bachelet und dem damaligen Nationaltrainer Jorge Sampaoli über die Frage, ob Vidal rausfliegen müsse, holte er die Copa América. Und damit den ersten Titel in der Geschichte des langen Landes.

Schon vorher hatte Vidals Wort Gewicht, es ist aber noch relevanter, seit er in Trainer Rueda einen Alliierten gefunden hat, den er gegen die Presse in Schutz nimmt. Und der ihm und seinen Freunden in Brasilien ungeahnte Freiheiten einräumt. Frauen dürfen im Mannschaftshotel übernachten, solange es die festen Lebenspartnerinnen sind und nicht wie neulich bei Stürmer Eduardo Vargas flüchtige Bekanntschaften von der Straße. Viel wichtiger aber noch für Vidal: Die Spieler, mit denen er sich verkracht hatte, wurden nicht berücksichtigt. Torwart Claudio Bravo und Mittelfeldspieler Marcelo Díaz mussten zuhause bleiben.

Gereifter, entspannter und reflektierter

Das Resultat: Bei der Copa América in Brasilien wirkt Vidal einstweilen gereifter, entspannter und reflektierter als bei früheren Turnieren. "Es gibt einen großen Unterschied zu 2015", sagt er selbst, "damals hatten wir nur Hunger, aber keine Erfahrung und keine Titel. Jetzt verstehen wir es, die Spiele besser zu kontrollieren."

Dazu trägt Vidal eine Menge bei. Er setzt seinen Körper im Mittelfeld weiter ohne Rücksicht auf Verluste ein, Chile steht nicht zufällig an der Spitze des Rankings mit den meisten Fouls des Turniers (76, Peru folgt mit 71). Sein martialisches Auftreten (kein verbliebener Spieler hat mehr Fouls begangen als Vidal mit seinen 13) verbirgt aber immer noch, dass er einen feinen Fuß hat: Er zählt zu den besten Akteuren des Turniers. Damit bestätigt er den Eindruck, den er in Barcelona hinterließ. Jene Experten, die weissagten, Vidal würde beim künstlerisch geprägten FC Barcelona untergehen, als er 2018 den FC Bayern verließ, sahen sich eines Besseren belehrt. Als Barça im Halbfinale der Champions League in Liverpool 0:4 verlor (Hinspiel 3:0), war Vidal bester Mann der Katalanen.

Eigentlich hatte er auf seinem Körper einen Flecken für ein Tattoo des Champions-League-Pokals reserviert. Nun soll dort die dritte Copa América hin, auch gut. "Wir wollen das Triple, das ist unser Traum", sagte Vidal lächelnd und meinte es offenkundig ernst.

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