Copa América:Stupser auf die Nase

Neymar,  Carlos Bacca,

Theater in der Nachspielzeit - und Rot für beide: Der Kolumbianer Carlos Bacca (links) schubst den Brasilianer Neymar (Nummer zehn).

(Foto: Silvia Izquierdo/AP)

Beim 0:1 gegen Kolumbien verliert Brasilien Superstar Neymar durch einen Platzverweis - und schon wird die Copa von wilden Verschwörungstheorien überschattet.

Von JAVIER CÁCERES, Santiago de Chile

Als Brasiliens erste Niederlage unter dem seit einem Jahr amtierenden Trainer Carlos Dunga besiegelt und eine Serie von elf Siegen beendet war, verlor Neymar Junior vom FC Barcelona jede Contenance. 0:1 hatten die Seleção bei der Copa América gegen Kolumbien im zweiten Spiel der Gruppe C verloren, ein Vorrunden-Aus ist damit nicht mehr völlig ausgeschlossen - und das vor allem, weil Neymar wegen eines allzu offenkundigen Versuchs, den Ball mit der Hand ins Tor zu bugsieren, eine gelbe Karte gesehen hatte. Zwei gelbe Karten im Turnier ergeben automatisch eine Sperre. Die erste fing sich der Kapitän im Auftaktspiel gegen Peru ein, weil er das Freistoßspray mit der Hand vom Rasen geschöpft hatte, um konzentrierter gegen den Ball treten zu können. Womöglich ist dieses Doppelgelb, und die Erkenntnis, dass er am Sonntag im wegweisenden Gruppenspiel gegen Venezuela nicht dabei sein wird, eine Erklärung für jene Tumulte, die sich an den Abpfiff anschlossen. Neymar nahm den Ball, drosch ihn dem kolumbianischen Mittelfeldspieler Pablo Armero in den Rücken, versetzte dem kolumbianischen Torschützen Jeison Murillo, der ihn zur Rede stellte, einen Stupser auf die Nase - mindestens mit seinem Papageien-Haarschopf, eher aber mit der Stirn. Die Folge: eine minutenlange Rangelei auf dem Rasen des überwiegend von kolumbianischen Fans bevölkerten Estadio Monumental von Colo Colo Santiago, an deren Siedepunkt sich knapp hundert Menschen beteiligt haben dürften.

Zu größeren Personenschäden kam es nicht, wohl aber zerriss es Kolumbiens Stürmer Carlos Bacca (FC Sevilla) das gelbe Shirt. Er hatte zunächst Neymar geschubst und geriet dann in ein Gezerre nicht mehr zuzuordnender Hände. Auch deshalb zählte zu den besseren Leistungen des Abends, dass Schiedsrichter Enrique Osses (Chile) einigermaßen den Überblick behielt: Noch ehe Neymar den Platz Richtung Kabinengang verlassen konnte, zeigt er dem Brasilianer auch noch die rote Karte. Dann rannte der Schiedsrichter 70 Meter zurück und erteilte dem noch immer im Gewühl befindlichen Bacca ebenfalls einen Platzverweis.

Neymar wurde später vom südamerikanischen Verband "vorläufig" für ein Spiel gesperrt, das finale Urteil spricht ein Disziplinarkomitee am Freitag. Unter Umständen ist die Copa für ihn also bereits vorbei - abhängig vom Resultat gegen Venezuela. Entsprechend geknickt gab er sich bei seinem Kurzaufenthalt in der Mixed Zone, wo er ausschließlich seinen Medienpartner O Globo bediente. Geknickt heißt aber nicht, dass er Reue gezeigt hätte. Im Gegenteil. "Die Regeln werden gegen mich ausgelegt", klagte er, die Stirnfransen nun unter einer Wollmütze versteckt - und erinnerte an die Kuriosität mit dem Freistoßspray. Jenes Handspiel, für das er gegen Kolumbien verwarnt wurde, sei zudem unabsichtlich gewesen, argumentierte er, auch die Rangelei nach Schlusspfiff müsse unbedingt dem Schiedsrichter angelastet werden. "Das kommt davon, wenn man für so ein Spiel einen schwachen Referee einsetzt." Auch Rechtsverteidiger Dani Alves, wie Neymar beim Champions-League-Sieger FC Barcelona aktiv, suchte jegliche Verantwortung für die Pleite beim Spielleiter.

"Südamerika ist: alle gegen Brasilien", sagt Verteidiger Dani Alves

"Die Schiedsrichter sollten endlich damit aufhören, Hauptdarsteller sein zu wollen", sagte er und rückte alles in einen noch größeren Kontext: "Wir kennen das doch zur Genüge. Südamerika ist: Alle gegen Brasilien! Jetzt müssen wir zusammenhalten. Willkommen bei der Copa América."

Diesen Gruß nahm auch Trainer Dunga dankbar an ("dass wir über den Schiedsrichter reden, sagt doch alles"), er bezichtigte die Kolumbianer der Provokation. Dunga widersprach auch nicht, als er gefragt wurde, ob Neymar wegen neuer Ermittlungen rund um seinen Transfer vom FC Santos zum FC Barcelona aus dem Jahr 2013 angespannt sei. Neben möglichen Steuerdelikten nimmt die spanische Justiz den Klubwechsel wegen Betrugsverdachts unter die Lupe, ein Investmentfonds hat Klage eingereicht. "Wir sind alle menschlich. Wir können private Dinge nicht von den beruflichen trennen", sagte Dunga. Nebenkriegsschauplätze dürften dem Trainer gut in den Kram passen, weil sie eine Debatte verhindern, in der Dunga schlechte Karten hätte. Denn die Qualität des Fußballs, den Brasilien bot, erinnerte nur entfernt an die Kunst der Seleção von einst.

Der ehemalige Mittelfeldabräumer hat in einem Jahr ein Team aus lauter kleinen Dungas geformt - gehorsam, strebsam, kampfbereit, stets für ein taktisches Foul zu haben. Aber sonst? "Ich gestehe, wir haben nicht gut gespielt, auch ich nicht", sagte Neymar, unterschlug aber, dass den Brasilianern eine perfekt organisierte kolumbianische Elf gegenüberstand. Die kollektive Phantasie Kolumbiens wog Neymars individuelle Kreativität mehr als auf.

Nun wird er fehlen, und natürlich sehen in Südamerika alle die Parallele: Auch bei der WM 2014 fehlte er im Halbfinale, verletzt im Viertelfinale gegen die Kolumbianer. Das Resultat ist Fluch und Historie: 1:7 gegen die Deutschen. Dass Neymar nun erneut nicht zur Verfügung steht, nimmt Dunga vordergründig gelassen - ganz in der Linie der letzten Tage, als er eine Neymar-Abhängigkeit der brasilianischen Elf leugnete. Auch Neymar sagte: "Es gibt keinen unbezwingbaren Spieler, einmal musste ich verlieren."

Dann trollte er sich in die kalte Nacht von Santiago, die die Hitze des Gefechts zu konterkarieren schien.

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