Süddeutsche Zeitung

Cockpitvergabe in der Formel 1:Kein Reiter fürs Versorgungspferd

Lesezeit: 3 min

Lieber der selbstlose Valtteri Bottas oder der schnelle George Russell? Bei Mercedes muss die Entscheidung fallen, wer künftig an der Seite von Lewis Hamilton fährt. Auch wenn derzeit wenig für den 31-jährigen Finnen spricht: Bottas einziger Trumpf dürfte die Erinnerung an Hamiltons Platzhirsch-Kämpfe mit Nico Rosberg sein.

Von Philipp Schneider, Budapest

Sein blondes Haar lag platt auf dem Haupt, auf der Stirn waren tiefe Furchen zu besichtigen, die der Helm hinterlassen hatte, und seine Gesichtsfarbe changierte zwischen zartrosa und einem wohltemperierten Rot. Hätte sein Rennstall Mercedes schon nach dem vergangenen Rennen in Silverstone verkündet, dass Valtteri Bottas nach dieser Saison nicht mehr der Fahrer an der Seite von Lewis Hamilton sein wird, der Pilot hätte die angemessene optische Erscheinung zur Nachricht abgegeben.

Bottas hatte soeben einen selbstlosen Ritt hinter sich gebracht, an dessen Ende er den Silberpfeil-Chefpiloten Hamilton brav an sich vorbeigelassen hatte, damit der sich an Bottas' Stelle noch den Rennsieg schnappen durfte. Sechs Rennen zuvor in Barcelona hatte sich Bottas bei einer ähnlichen Anweisung noch gesträubt. Diesmal aber? Keine Millisekunde.

Bottas sah so ermattet aus, dass die Erinnerung an jenen Bottas sehr schwer fiel, der vor vier Jahren zu Mercedes gewechselt war, um Weltmeister zu werden. Allerdings gab es für seine Gesichtsfarbe auch eine Erklärung: "Ich konnte nicht trinken", sagte Bottas später. Er hatte ein Rennen bei Temperaturen um die 30 Grad Celsius hinter sich gebracht, ohne Flüssigkeit zu sich zu nehmen. "Mein Trinksystem war defekt." Was für ein Bild: Bottas, der Wasserträger von Hamilton, der selbst keinen Schluck anrühren konnte. Wäre die Formel 1 ein Western, Bottas wäre nach einem Ritt auf seinem Versorgungspferd durch die Wüste kurz vor der rettenden Saloon-Tür aus dem Sattel geplumpst, hinter der Hamilton bereits die dritte Lokalrunde schmeißt. Und unten, im Staub, wären dann kurz vor dem Abgleiten in die Bewusstlosigkeit noch die Worte des Teamchefs Toto Wolff an Bottas' Ohren gedrungen: "Er ist ein großartiges Teammitglied mit der richtigen Persönlichkeit." Aber es sei halt auch so: "Statistisch gesehen sind seine Chancen, die Meisterschaft zu gewinnen, verglichen mit Lewis sehr gering."

Es gibt in jedem Sommer ein Cockpit, dessen Vergabe eine Kettenreaktion zur Folge hat. Nachdem Hamilton kürzlich um zwei Jahre verlängerte, ist es in diesem Jahr jenes von Bottas. Der 31-Jährige bangt um seinen Verbleib im Weltmeister-Rennstall. George Russell, 23, hofft nach drei Jahren beim Schlusslicht Williams auf die Beförderung nach ganz oben. Beide haben schon vor Wochen um eine Klärung in der Sommerpause gebeten. Und vor einigen Wochen noch hätte kaum jemand einen Cent gewettet auf Bottas, dessen Bilanz sich verheerend las: dreimal Dritter, einmal Zwölfter, zweimal gar nicht im Ziel. In den vergangenen vier Einsätzen hat er sich aber nicht nur sportlich etwas gefangen, er hat mit seiner nicht ganz unfreiwilligen Devotion und Servilität zumindest bei Hamilton, womöglich sogar auch bei Wolff Pluspunkte gesammelt. Aber es dürfte zu spät sein.

Bei Mercedes werden sie sich fragen, ob es nicht klüger ist, sich möglichst bald auf einen potenziellen Weltmeister für die Post-Hamilton-Ära festzulegen. Man tritt Bottas wohl nicht zu nahe, wenn man sagt, dass er in diesem Leben keiner mehr werden wird. Bei Russell allerdings stellen sich Beobachter die Frage, ob seine Begabung die von Hamilton noch überflügelt. In seiner ersten Saison schlug er in jeder Qualifikation seinen Garagennachbarn Robert Kubica, in der vergangenen Saison machte er das Gleiche mit Nicholas Latifi. Zuletzt in Silverstone fuhr Russell in seinem lahmen Williams in der Qualifikation sensationell die achtbeste Zeit. Und als er im Vorjahr einmal den positiv auf Corona getesteten Hamilton in dessen Silberpfeil vertrat, wäre er aus diesem wohl als Sieger entstiegen - hätten ihm nicht die Mechaniker bei einem Garagenbesuch die falschen Reifen angeschraubt.

Das wuchtigste Argument pro Bottas dürften paradoxerweise die Ambitionen Russels sein, der am Freitag nochmals bekräftigte, dass er unbedingt Weltmeister werden möchte. Bottas' Trumpf wäre also eine mögliche Sorge bei Mercedes, dass wieder Verhältnisse einkehren wie vor 2017, als sich in Hamilton und Nico Rosberg zwei Platzhirsche aneinander rieben, dass die Funken flogen. Ungewöhnlich oft bemühte Bottas am Freitag in Budapest die Redewendung, es gelte nun, sich auf den "Job als ein Team" zu konzentrieren.

"Jetzt werden wir schauen, welche Entscheidung wir treffen - oder schon getroffen haben, aber noch nicht gesagt haben", orakelte Wolff vor dem letzten Rennen vor der Sommerpause. Das klang nicht nur rätselhaft, sondern betont amüsant. Es sei ihm wichtig, dafür Sorge zu tragen, "dass wir für beide eine Zukunft haben. Dass man auch mit ihnen bespricht, was die Alternativen sind", sagte Wolff. Zumindest Russell weiß genau, was die Alternative ist: ein Wechsel in Bottas' Silberpfeil.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5367892
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.