In Paris war die Leichtathletin Christina Hering zuletzt bereits in versteckter Mission unterwegs. Sie war schon noch offiziell Berufsleichtathletin, sie hatte sogar kurz zuvor noch höchst offiziell im Trainingslager in der Höhe geschwitzt, Tempoläufe mit den Teamkolleginnen abgespult, kurz bevor diese zu den Spielen nach Frankreich reisten, dem Sehnsuchtsziel nach dreijähriger Schufterei. Aber Hering wusste da längst, dass sie diesen Höhepunkt verpassen würde; dass ihre Hochleistungskarriere ein paar Wochen früher aufs Ende zusteuerte als erhofft.
Die Qualifikation für ihre dritten Spiele hatte sie nicht mehr geschafft. Nach Paris reiste sie aber schon, auch, weil sich Freunde und ihr Fanklub längst in der französischen Kapitale eingebucht hatten. So wurde es kurzerhand ein „sehr sportlicher Urlaub“, sagt sie, bei dem Hering erfuhr, wie schön das sein kann: „Einfach mal das zu machen, worauf ich Lust habe.“
Wenn die Saison am Sonntag für viele deutsche Leichtathleten beim Istaf in Berlin endet, neigt sich auch eine beeindruckende Karriere zu Ende. 15 nationale Einzeltitel hat Christina Hering, Spitzname „Fischi“, von der LG Stadtwerke München in der Halle und im Freien gesammelt, mehr als so ziemlich jede andere deutsche Läuferin auf olympischen Strecken im Stadion. Die 600 Meter in Berlin, mit denen die Berliner Veranstalter Hering ein Abschlussrennen bereiten, sind ihre letzten Schritte im Profigeschäft. Und wenn man mit ihr über diesen Entschluss spricht, spürt man, dass ihr das sogar ein wenig Spaß zu bereiten scheint: wie sie auch Freunde mit ihrem Entschluss überrascht hat, etwas mehr als einen Monat vor ihrem 30. Geburtstag.
Die Gründe, die Hochleistungssportler beim Ausstieg aus dem Geschäft anführen, sind oft dieselben: Verletzungen. Kräfte, die schon länger aus dem Körper gewichen sind. Jahre im Hochleistungskreisel, die den Kopf mürbe machen. „Ich habe es leider schon oft bei anderen erlebt, dass sie nicht oder nicht ganz freiwillig zurücktreten mussten“, sagt Hering. So klingt es plötzlich sehr schlüssig, wenn sie ihre Beweggründe darlegt. Gerade, weil der Körper noch könnte, gerade weil sie die Freiheit habe, aus „ganz freien Stücken“ aufzuhören, tue sie das. Selbst wenn ein Körper noch kann, leitet sich daraus ja keine Bürgerpflicht ab, ihn bis auf den letzten Tropfen auszuquetschen, zumal Herings Kopf bereit ist für Neues.
„Ich habe in anderen Ländern schon das Gefühl, dass deren Gesellschaften sportliche Leistungen mehr wertschätzen.“
Nach zehn Jahren, in den sie im Zweifel immer die Hochleistungssportlerin über alles stellte, wolle sie „in den ganz normalen Alltag eintauchen“. Reisen. Zwei Monate Australien. Skifahren, auf das sie jahrelang verzichtete, anders als mancher Profifußballer. Danach, im kommenden Jahr, der Einstieg in den Beruf, vielleicht im Sportmarketing. Und da sie „stolz“ auf das ist, was sie erreicht hat, darf man davon ausgehen, dass sich ihre schlaflosen Nächte ob des Rücktritts zuletzt in Grenzen hielten.
Dass da eine Begabung heranreifte, hatte sich vor elf Jahren angekündigt, als Hering Bronze bei der U20-Europameisterschaft gewann, über 800 Meter und mit der 4x400-Meter-Staffel. Ein Jahr später siegte sie zum ersten Mal bei den deutschen Meisterschaften der Erwachsenen. 2015 gewann sie Bronze bei der U23-EM, vier Jahre später Silber bei der Universiade. Schöne Erfolge, aber Hering ist Profi genug, diese einzuordnen: „Der Traum, eine internationale Medaille zu gewinnen bei den Erwachsenen, schwebte schon auch mit.“ Bei der rauschenden EM 2022 in München wurde sie Siebte, in ihrem Stadion. Ein Finale bei Olympia oder einer ihrer fünf WM-Teilnahmen wäre „ein Wahnsinn gewesen“, doch der Wahnsinn blieb aus. Und natürlich sei ihre Bestzeit gut, 1:59,41 Minuten aus dem Jahr 2019, „aber es spiegelt nicht ganz das wider, was ich konnte“, sagt Hering. Da half auch der Umzug vor zwei Jahren nicht, von München und ihren langjährigen Trainern Daniel Stoll und Andreas Knauer zu Sven Buggel, der in Berlin vor allem starke 400-Meter-Läuferinnen betreut.
Andererseits: „Es hat mich von Anfang an immer angetrieben, Rennen zu gewinnen“, sagt Hering, und das beherrschte sie, vor allem national: die Innenbahn, Position eins, das war ihr Hoheitsgebiet, mit 1,87 Metern, die sie als Tochter des einstigen Basketball-Erstligaspielers Thomas Hering mitbrachte. Selbst bei den deutschen Titelkämpfen zuletzt in Braunschweig, wo ihr die letzte Chance auf die Paris-Norm entglitt, schlug sie noch mal alle, auch Majtie Kolberg, die sich in Paris im olympischen Halbfinale auf 1:58,52 Minuten steigerte.
Die 24-Jährige ist eine, die in Herings Sog an die Spitze geschwommen ist, aber leichter wird es auch für die Nachfolgerinnen nicht. „Es ist sehr beeindruckend, was sich die vergangenen Jahre international bei den Frauen auf der Mittelstrecke getan hat“, sagt Hering, vor allem durch die neuartigen Karbonspikes. Sie hat das zugleich das Kernproblem der deutschen Leichtathletik aus der ersten Reihe erlebt: „An Talenten mangelt es uns nicht.“ Aber in die Spitze zu gleiten, schaffen nur wenige. „Ich bin nicht unbedingt ein Verfechter von Zentralisierung“, sagt sie, aber in ihrer Zeit hatte sie schon das Gefühl: „Man muss erst mal viel selbst investieren, bevor man richtig finanziell gefördert wird.“ Der Trend, dass sich in Europa immer mehr internationale Trainingsgruppen formieren, oft alimentiert von Ausrüstern, die auch Talenten mehrere Jahre Unterstützung bieten, hält Hering jedenfalls für einen guten.
Letztlich fehlt ihr, wie so vielen deutschen Olympioniken, etwas, das sich nur bedingt durch Geld aufwiegen lässt. „Ich habe in anderen Ländern schon das Gefühl, dass deren Gesellschaften sportliche Leistungen mehr wertschätzen“, sagt sie: „Bei uns muss man sich oft kritisieren lassen, wenn man in der ersten Runde ausscheidet. Für manche ist eben zu gewissen Zeitpunkten die Teilnahme das Größte, was sie erreichen können.“ Sie hoffe, sagt Christina Hering, „dass unsere Talente weiter genug Eigenmotivation mitbringen“. Wenn das dem einen oder der anderen weiter gelingen sollte, ist die 29-Jährige daran vielleicht nicht ganz unschuldig.