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Christian Gentner beim VfB Stuttgart:Sie lieben den Mann mit der Zorro-Maske

  • Bei einem Zusammenprall mit Wolfsburgs Torhüter Koen Casteels erlitt Stuttgarts Christian Gentner Mitte September Brüche des unteren und seitlichen Augenhöhlenbodens, Bruch des Nasenbeins, Bruch des Oberkiefers.
  • Seit rund einem Monat spielt er wieder, an diesem Samstag gegen den FC Bayern. Mindestens ein Vierteljahr trägt er noch eine Maske, die seine Gesichtsknochen schützt.
  • "Mein Stellenwert in Stadt und Verein ist durch den professionellen Verlauf der Reha und das schnelle Comeback sicher noch mal einen Tick größer geworden", sagt Gentner.

Von Christof Kneer, Stuttgart

Es gibt immer noch Menschen, die stehen bleiben, wenn sie ihn in Stuttgart auf der Straße treffen. "Wie geht es Ihnen, Herr Gentner?" fragen sie dann, oder sie setzen einen besorgten Blick auf, mischen etwas Mitleid hinein und sagen: "Alles gut bei Ihnen?" Herr Gentner hat sich für Nachfragen dieser Art inzwischen extra ein freundliches Schmunzeln zugelegt, zumeist flankiert von einer automatisch abgespielten Antwort, die ungefähr "Danke der Nachfrage, aber ich spiele übrigens seit vier Wochen schon wieder Fußball" lautet. Die etwas besser Informierten fragen manchmal noch, wo denn seine Maske sei. Wo sie hingehöre, sagt Christian Gentner dann, drunten im Spind halt, auf dem Vereinsgelände des VfB.

Christian Gentner, 32, wird diese Bilder nicht mehr los. Wie er da vor inzwischen exakt drei Monaten im Luftraum über Stuttgart dem Knie des Wolfsburger Torhüters Koen Casteels begegnet, wie er nach der Kollision regungslos und schwer im Gesicht getroffen liegen bleibt, wie die Spieler um ihn herum hektisch gestikulieren, wie Stuttgarts Teamarzt aufs Spielfeld rennt, unbelästigt von jeder Form von Videobeweis, obwohl der Schiedsrichter die Partie noch gar nicht unterbrochen hat. Wie der Teamarzt ihm rechtzeitig die Zunge aus dem Hals holt. Wie sie ihn auf einer Trage abtransportieren. Und wie sich die schwäbischen Menschen auf den Tribünen, die sich sonst mit schnellem Blick aufs Handy über jedes strittige Handspiel informieren können, gegenseitig betroffen anschauen, im Blick immer nur diese Frage: Woisch du was Genaueres?

Die Antwort war natürlich: noi. Keiner sah was, und keiner wusste was.

Der VfB hat an diesem 16. September übrigens ein Heimspiel gegen Wolfsburg gewonnen, aber der zuständige Siegertrainer hatte damals höchstens einen Seitenblick für das Ergebnis übrig. Er hoffe, dass es dem Christian gutgehe und dass von dem Zusammenprall nichts zurückbleibe, antwortete Hannes Wolf in der Pressekonferenz, auch wenn jemand nach der Taktik oder nach dem Torschützen oder nach einem Einwurf aus der 43. Minute fragte.

Probleme habe er fast nur noch beim Zähneputzen, sagt Gentner

Brüche des unteren und seitlichen Augenhöhlenbodens, Bruch des Nasenbeins, Bruch des Oberkiefers: Drei Monate später sitzt einem Christian Gentner im Klubrestaurant gegenüber, und nur mit einem unhöflich genauen Blick ist noch eine kleine Narbe unterm rechten Auge zu erkennen. Ansonsten sieht Christian Gentner aus wie Christian Gentner vor dem 16. September. Manchmal habe er noch "erträgliche Schmerzen", sagt er, Probleme habe er fast nur noch beim Zähneputzen, weil ein Teil der Operation durch den Mund erfolgte.

Gentner kann inzwischen entspannt von seinem Unfall erzählen, er sagt, dass er sich noch erinnern kann, "wie ich in der 83. oder 84. Minute an die Anzeigetafel geschaut habe". Zwei Minuten später traf ihn Casteels' Knie, "und dann weiß ich erst wieder, wie in der Klinik eine Platzwunde genäht wurde". Später am Abend saßen irgendwann seine Brüder an seinem Bett, und im Gespräch mit ihnen ist ihm dann, Bild für Bild und Fakt für Fakt, "allmählich alles wieder eingefallen: dass wir an diesem Tag ein Spiel hatten, dass wir gewonnen haben und was bis dahin in der Saison so passiert ist. Dass wir im Sommer aufgestiegen sind. Alles war weg, und dann war alles wieder da".

Gentner erzählt seine Geschichte mit der Gewissheit eines Mannes, der das Ende der Geschichte kennt. Das Ende der Geschichte war das Heimspiel gegen Dortmund Mitte November, Gentner stand völlig unerwartet wieder auf dem Platz, das heißt, man musste dem VfB glauben, dass das da wirklich der Gentner war, erkennen konnte man ihn nicht. Er trug (und trägt mindestens noch ein Vierteljahr) eine Maske, die seine Gesichtsknochen weiterhin schützt und "genau auf meinen Eckschädel angepasst ist", wie er sagt. Der VfB gewann gegen Dortmund 2:1, und eine Woche später, beim 1:1 in Hannover, bereitete Gentner bereits das Tor des VfB vor.

Und schon recht lustig waren die Analysen nach diesen Spielen. Klar, schrieben die Zeitungen und sagten die Zuschauer, klar, dass der VfB jetzt wieder stabil ist: Der Gentner ist ja wieder dabei.

Gemeint war absolut derselbe Gentner, der sich in Stuttgart viel zu lange dafür rechtfertigen musste, der Gentner zu sein.

Christian Gentner ist einer dieser Fußballer, die es kaum mehr gibt. Gäbe es im Fußball Treuepunkte wie im Supermarkt an der Kasse, dann würde dieser Gentner haufenweise Treuepunktprämien mit nach Hause schleppen. Seit 1999 spielt er für den VfB, unterbrochen nur von drei Jahren beim VfL Wolfsburg, mit dem er 2009 ebenso deutscher Meister wurde wie 2007 mit dem VfB.

Gentner ist ein stiller Teilhaber in dieser lauten Branche, in der Randsportart "Bescheidenheit" ist er wahrscheinlich so eine Art Lionel Messi, und dennoch ist er eine fast historische Figur: "Ludovic Magnin hat mal gesagt, er und ich würden zu den ganz wenigen Spielern in diesem Jahrhundert gehören, die zweimal mit zwei verschiedenen Mannschaften deutscher Meister waren, und keine dieser Mannschaften war der FC Bayern." Magnin, ein sehr, sehr lustiger Schweizer, gewann die Titel mit Werder Bremen (2004) und eben 2007 mit dem VfB, zusammen mit Gentner. Am Wochenende trifft Gentner mit dem VfB übrigens wieder auf die Bayern, aber sicherheitshalber gehen die Schwaben mal nicht davon aus, dass die Münchner vor dem Bayern-Bezwinger Gentner erschrecken werden, außer vor seiner Zorro-Maske möglicherweise.

Der treue Husare kommt den Fans wieder näher

Beim VfB schleicht sich gerade womöglich eine dieser typischen VfB-Krisen an, aber immerhin ist nicht zu erwarten, dass die Leute sich zwecks Frustbewältigung wieder an Christian Gentner abarbeiten werden. Ausgerechnet in Stuttgart, wo sie so sehr auf selbst gezogene Talente stehen, haben sie diesen Gentner ja lange überkritisch gesehen, wobei die Motive fürs Gentner-Gebruddel nie recht klar waren. "Wir hatten halt ein paar schwierige Jahre zuletzt", sagt er selbst, "es gab nie wirklich Ruhe im Klub, und ich war eben ein zentraler Bestandteil dieser VfB-Mannschaften, die nicht so erfolgreich waren, wie die Leute das aus der Vereinsgeschichte gewohnt waren. Und vielleicht hat man sich dann halt den Kapitän als Projektionsfläche für den Ärger rausgepickt."

Es ist nun fast ein wenig makaber, dass es auch das Knie eines Wolfsburger Torwarts gebraucht hat, um den Leuten diesen treuen Husaren wieder näherzubringen. "Mein Stellenwert in Stadt und Verein ist durch den professionellen Verlauf der Reha und das schnelle Comeback sicher noch mal einen Tick größer geworden", sagt Gentner, "zumal meine Leistungen danach gleich wieder auf gutem Niveau waren." Früher sind seine Eltern manchmal auf der Tribüne gesessen, und sie mussten sich "wahrscheinlich auf die Zunge beißen, wenn jemand auf ihren Sohn schimpft", sagt er mit einem Schmunzeln. Im Moment sollten seine Eltern aber trotz der jüngsten Niederlagenserie unbesorgt auf der Tribüne Platz nehmen können.

Christian Gentner spielt nicht immer gut, er kommt mit 32 schon manchmal in den Grenzbereich dieses schnellen und athletischen Spiels. Aber die Leute schätzen es inzwischen sehr, dass sie da einen Fußballer haben, dessen einzige Extravaganz eine weltexklusive, ausschließlich auf ihn zugeschnittene Gesichtsmaske ist.

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Quelle:
SZ vom 16.12.2017/chge
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