Süddeutsche Zeitung

Christian Eriksen:Niemand sollte im Schockzustand Fußball spielen müssen

Es war falsch, das Spiel zwischen Dänemark und Finnland nach dem Kollaps von Christian Eriksen fortzusetzen. Die Uefa muss sich für einen solchen Fall klare Regeln geben - Spieler können und sollten das nicht entscheiden.

Kommentar von Claudio Catuogno

Es sind nun völlig andere Bilder als erwartet, die vom ersten Wochenende der Fußball-Europameisterschaft im Gedächtnis bleiben. Es sind nicht die feiernden Italiener auf der Tribüne des Stadio Olimpico in Rom, die das 3:0 der Azzurri im Eröffnungsspiel wie einen Akt der Erlösung begingen. Es sind nicht die Schweizer oder Waliser beim Torjubel in Baku. Im Gedächtnis bleiben schockierte dänische Fußballer, die sich wie ein schützender Kokon um ihren Kameraden Christian Eriksen aufstellten, während dieser nach einem Zusammenbruch im Spiel gegen Finnland auf dem Rasen wiederbelebt werden musste. Im Gedächtnis bleiben die fassungslosen Zuschauer aus beiden Ländern auf den Tribünen in Kopenhagen, die unter ihrer Schminke und ihren Wikingerhelmen sehr schnell ahnten und sehr lange ertragen mussten, dass es hier um Leben und Tod geht.

Über was hatte man nicht alles Debatten geführt in den vergangenen Wochen: Darf man mitten in der Pandemie eine über elf Länder verstreute EM veranstalten? Wer darf warum in welche Stadien? Und: Sollte dieses Turnier im Sommer 2021 wirklich "Euro 2020" heißen? Alles marginal plötzlich.

Nicht nur Corona kann auf einen Schlag alle Gewissheiten über den Haufen werfen, das wurde am Samstagabend zum unerwarteten Untertitel des EM-Auftakts.

Fußballspieler tauchen schnell wieder in den EM-Tunnel - und unterschätzen die Folgen des Schockmoments

Viele müssen quasi in Echtzeit darauf reagieren, wenn das Unerwartete alle Pläne umstößt: die TV-Bildermacher, die sich nun fragen lassen müssen, ob es richtig war, auf Eriksens Freundin zu zoomen, ebenso wie die um den Fortgang ihres Milliardengeschäfts bangenden Funktionäre, die schnell einen neuen Zeitplan brauchten. Nachdem Eriksens Zustand wieder stabil war, haben beide Teams, Dänen und Finnen, entschieden weiterzuspielen - so las sich dann das Wording der Veranstalter: Die Uefa habe "einer Anfrage der Spieler" entsprochen und "zugestimmt", das Spiel noch am Abend fortzusetzen. Tatsächlich hatten die Uefa-Verantwortlichen wohl eher auf eine Verschiebung auf den folgenden Mittag gedrängt.

Aber als Spieler taucht man da schnell wieder in den EM-Tunnel, man bedenkt die Konsequenzen einer Verschiebung (Reisechaos, weniger Regeneration, eine sicher unruhige Nacht vor sich ...) - aber man unterschätzt die Folgen des Schockmoments. Geht schon!, sagt der Mensch, wenn es in Wahrheit eben nicht geht.

Es sei da, ohne die Ereignisse im Detail miteinander vergleichen zu wollen, an den Nagelbomben-Anschlag auf den Bus von Borussia Dortmund erinnert, im April 2017. Auch da ging es um Leben und Tod. Dem spanischen Spieler Marc Bartra hatten sich Nägel in den Arm gebohrt. Damals wurden die BVB-Profis am nächsten Abend wieder in der Champions League auf dem Platz gebeten. Geht schon. Erst später mussten sie einräumen: In Wahrheit war es unverantwortlich dem eigenen Körper gegenüber, sofort wieder funktionieren zu müssen.

Eriksen selbst hatte aus dem Krankenhaus Entwarnung gegeben

Aber Christian Eriksen selbst hatte ja eine Art Entwarnung gegeben, als er wieder bei Bewusstsein und in stabilem Zustand war. Noch aus dem Krankenhaus hat er mit Teilen seines Teams kommuniziert. Und ein Fußballer im Krankenhaus, so makaber das klingen mag, das gehört dann schon wieder zur Branchenroutine, auch wenn ein gerissenes Kreuzband oder ein gebrochener Mittelfußknochen nicht diese schrecklichen Minuten der Ungewissheit mit sich bringen: ob man das überhaupt wird reparieren können. Man kann das schon verstehen, dass Fußballer dann sagen: Wir spielen! Für Christian!

Am Ende standen dann Bilder, die nun auch in Erinnerung bleiben: Der dänische Torwart Kasper Schmeichel beim 0:1, wie ihm ein harmloser Ball unter dem Körper durchflutscht. Der dänische Führungsspieler Pierre Emile Höjbjerg, der seinen Elfmeter so schwach in die Arme des finnischen Torwarts schießt, dass man ihm, mindestens bei Twitter, unter anderen Umständen wohl irgendwas zwischen Totalversagen und Landesverrat vorwerfen würde.

Es braucht klare Regeln für eine solche Situation

Nur: Hatte dieses Fußballspiel nicht gerade erst verdeutlicht, dass es größere Dramen gibt als Torwartfehler und schlecht geschossene Elfmeter? Eben. Die dänische Mannschaft wird mit einer Niederlage gegen Finnland leben können angesichts der viel wichtigeren Nachricht, dass Christian Eriksen die Notsituation überstanden hat.

Aber so komplex der Sachverhalt ist und so sehr am Ende immer die Einzelfallprüfung nötig sein wird: Die Uefa als Veranstalter sollte sich klarere Regeln geben. Damit beim nächsten Mal niemand im Schockzustand weiterspielen muss, selbst wenn er in diesem Moment der irrigen Meinung ist, dass es schon gehen wird.

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