Süddeutsche Zeitung

Olympische Spiele:Der Schnellste schaut nur zu

Die Sperre von US-Leichtathlet Christian Coleman wird reduziert, doch den 100-Meter-Sprint in Tokio verpasst er dennoch. Wegen einer schlecht getimten Shoppingtour, wie er behauptet.

Von Johannes Knuth

Der Leichtathlet Christian Coleman führt einige Talente mit sich, Einsicht ist aber eher nicht darunter. Vor zwei Jahren, Coleman war in Doha gerade Weltmeister über 100 Meter geworden, bat er um Milde: Dass er vor der WM schon mehrmals für Dopingtester nicht auffindbar gewesen war, sei seiner Lebensführung geschuldet: "Ich bin jung, ich reise um die Welt, habe Freunde und Familie an unterschiedlichen Orten." Das digitale Meldesystem der Welt-Anti-Doping-Agentur mit den Aufenthaltsorten zu befüllen - ein Grundpfeiler der Bemühungen um sauberen Sport - sei "manchmal nicht in meinen Gedanken". Aber hey, keine Sorge: Er werde künftig "versuchen, gewissenhafter zu sein". Coleman hätte wohl auch problemlos eine Hilfskraft für diese lästige Büroarbeit anheuern können, dank des üppigen Salärs seiner Sponsoren. Aber so weit reichten seine Gedanken offenbar auch nicht. Oder war das mit der Schusseligkeit bloß ein dreister Vorwand?

Der 25-Jährige aus Atlanta wird die jüngste Wendung in seinem Fall jedenfalls kaum einsichtiger aufgenommen haben. Der Internationale Sportgerichtshof (Cas) beschnitt jetzt zwar Colemans Sperre, die ihm die Integritätseinheit (AIU) des Weltverbandes aufgedonnert hatte, von zwei Jahren auf 18 Monate. Im Kern hielt der Cas das Verdikt aber aufrecht. Coleman bleibt bis zum November 2021 gesperrt, weil er binnen zwölf Monaten drei Mal nicht für die Dopingfahnder auffindbar war. Das wird ähnlich sanktioniert wie ein positiver Dopingbefund. Er wird nun zwar nicht die WM 2022 im eigenen Land verpassen, dafür eine der Hauptvorstellungen dieses Sommers: die 100 Meter bei den Olympischen Spielen in Tokio.

Und Coleman ist nicht irgendwer: Er ist nicht nur diensthabender Weltmeister über 100 Meter in 9,76 Sekunden, der sechstschnellsten Zeit der Geschichte; er hält auch den Hallen-Weltrekord über 60 Meter - ein legitimer Nachfolger von Usain Bolt, so hatten sie in seinem Sport zumindest mal gehofft. Nun steht der 25-Jährige in einer finsteren Reihe: von sanktionierten Sprintern, die sich auch in großer Zahl in den Bestenliste wiederfinden.

Die schnellsten 100-Meter-Sprinter der Geschichte

9,58 Sekunden Usain Bolt (Jamaika)

9,69 Tyson Gay (USA) *

9,69 Yohan Blake (Jamaika) *

9,72 Asafa Powell (Jamaika) *

9,74 Justin Gatlin (USA) *

9,76 Christian Coleman (USA) **

9,78 Nesta Carter (Jamaika) *

9,79 Maurice Greene (USA) ***

9,80 Steve Mullings (Jamaika) *

9,82 Richard Thompson (Trinidad & Tobago)

* Mindestens einmal wegen Dopings gesperrt

** Wegen Verstößen gegen die Meldepflicht gesperrt

*** Mit Doping in Verbindung gebracht, aber weder überführt, noch verurteilt

Colemans Theorie: Man habe ihm ein Vergehen unterjubeln wollen

Coleman hatte schon vor der WM in Doha zwei verpasste Tests in den Büchern stehen, vom Januar und April 2019. Ein dritter bis zum Januar 2020, und er würde in eine Sperre schlittern - schon deshalb hätte er in diesem Zeitraum "in Alarmbereitschaft" sein müssen, wie der Cas nun tadelte. Stattdessen, so schilderten es die AIU-Ermittler, hatte Coleman am 9. Dezember 2019 ein Zeitfenster angegeben, in dem ihn die Tester erreichen würden, von 19:15 bis 20:15 Uhr. Er wartete aber nicht in seinem Domizil in Kentucky, sondern ging im benachbarten Einkaufszentrum shoppen.

Laut seiner Quittungen kaufte Coleman dort um 19:53 Uhr einen Snack, erledigte um 20:22 Uhr dann 16 Weihnachtsbesorgungen. Zwei Dopingtester gaben an, dass sie derweil bei Coleman klopften, zwischen 19:15 und 20:15 Uhr, alle zehn Minuten. Es habe aber niemand geantwortet, das Haus sei verdunkelt gewesen. Als die Kontrolleure das Anwesen kurz darauf verließen, fertigten sie noch einen fotografischen Nachweis an.

Alles ein Komplott, zürnte Coleman später: Er habe sich um 19:53 Uhr den Snack gekauft, sei kurz nach Hause gefahren, habe den Beginn einer Football-Partie geschaut und sei flugs zurück ins Shoppingcenter gefahren. Tester habe er keine vor seinem Haus erspäht. Das fand die AIU wiederum absurd: "Es wäre schlicht unmöglich für Coleman gewesen", schrieb sie, "um 19:53 Uhr einen Snack zu kaufen, nach Hause zu fahren, das Auto zu parken, ins Haus zu gehen, den Snack zu essen, das Football-Match zu schauen, das um 20:15 anfing, dann zurück ins Geschäft zu fahren, das zwischen fünf bis neun Minuten Fahrzeit von seinem Haus entfernt liegt und 16 Dinge einzukaufen, für die er um 20:22 Uhr bezahlt hat."

Coleman präsentierte eine ganz andere Theorie: Man habe ihm ein weiteres Vergehen unterjubeln wollen. Die Tester hätten ihn ja auch anrufen können; die Regeln sehen das aber nicht vor, der Athlet wäre ja auch vorgewarnt. Der Cas rechnete Coleman allerdings mildernd an, dass solche Anrufe tatsächlich zum "üblichen Prozedere" von Dopingkontrolleuren zählten - wenn Athlet und Tester an einem vereinbarten Treffpunkt nicht gleich zueinander finden, auf einem Trainingsgelände etwa.

Raphael Roux, der bei der AIU die Dopingtests koordiniert, hatte in der Causa freilich ausgesagt, dass er die Tester damals gebeten habe, Coleman nicht anzuklingeln: Der Athlet hatte in der Vergangenheit oft besonders gute Leistungen erbracht, wenn er gerade Dopingtests verpasst hatte. Roux hatte zudem den Eindruck, dass Coleman vor Dopingtests gewarnt worden sei. Diesmal wollte man ihn offenbar ganz ohne Vorwarnung antreffen.

Die Zweifel werden den Amerikaner also vermutlich noch weit nach seiner Sperre verfolgen. Und diese lassen sich meist deutlich schwerer abschütteln als die Konkurrenz über 100 Meter.

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