Am Anfang war da eine grüne Wiese am Rande von Aachen, wo sich die gut betuchte Reitergesellschaft jedes Jahr hoch zu Ross oder auf dem Kutschbock traf, die Damen mit Zylinder, die Herren mit Melone oder schwarzem Samtkäppi.
Aus dem Heckenfest vor der Stadt ist die größte Sportveranstaltung Deutschlands geworden, der CHIO, für jedes Aachener Kind der „Tschio“, offiziell der „Concours Equestre International Officiel“. Es war ein weiter Weg vom ersten Reitturnier in der Soers bis zum „Weltfest des Pferdesports“, als das sich der CHIO Aachen heute präsentiert. Eine Ausstellung feiert den 100. Geburtstag und zeigt die wechselvolle Geschichte des Turniers, das einen Weltkrieg überstand und 15 Championate ausrichtete. Das Gesamtbudget ist auf 20 Millionen Euro angewachsen, davon werden 3,9 Millionen Euro als Preisgeld ausgeschüttet, das Meiste an die Springreiter.
Die weite Stehplatzwiese musste irgendwann einer großen Tribüne weichen
Diesmal geht es wie alle vier Jahre um die Startplätze für Olympia. Am kommenden Montag müssen die Namen der Teamreiter in den drei Olympiadisziplinen Springen, Dressur und Vielseitigkeit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) mitgeteilt werden. Darüberhinaus hat der Veranstalter, der Aachen-Laurensberger Rennverein (ALRV), die Weltmeisterschaft 2026 schon fest im Blick. Dann soll es so etwas wie eine Neuauflage der Weltreiterspiele 2006 geben, mit sechs Disziplinen, außer den drei genannten auch Vierspännerfahren, Paradressur und Voltigieren. Aachen ist der einzige von acht Veranstaltern des inzwischen eingestellten Mammut-Events Weltreiterspiele, der am Ende nicht ein finanzielles Desaster am Hals hatte.
Im Laufe der Jahre wurde der CHIO immer prächtiger. Für die Weltreiterspiele 2006 wurde alles generalüberholt, weitgehend mit öffentlichen Mitteln. Die Stehplatzwiese, auf der die Aachener bei mitgebrachten Butterbroten den Pferden zuschauten, wich einer riesigen Tribüne. Auf dem Platz, auf dem die Kutschpferde warm gefahren wurden, steht jetzt ein weißer zweistöckiger VIP-Palast, dessen Zugang streng geregelt ist: goldenes Bändchen für den Eröffnungsabend, täglich wechselnde Farben für alle anderen Bereiche. Es hat was von den sieben Höfen eines chinesischen Palastes: Wer im ersten ist, darf noch längst nicht in den letzten.
Das CHIO Aachen ist ein riesiges Wirtschaftsunternehmen geworden. Man träumt von Expansion. Eine weitere Megahalle ist geplant, noch ein Turnierplatz, noch mehr Veranstaltungen. In einem Campus-Programm helfen Isabell Werth und Jos Lansink, 2006 in Aachen Weltmeister in Dressur und Springen, talentierten Jugendlichen bei ihrem Karrierestart.
Von der früheren zünftigen Romantik ist nicht mehr viel übrig. Wer alt genug ist, erinnert sich an das schmucklose Dressurviereck abseits des Parcours, umsäumt von einfachen Holzbänken. Dort saßen dann die damaligen Größen, die Neckermanns und Linsenhoffs, klatschten, lästerten und diskutierten ihre Wertnoten. Die wurden auf einer großen Schiefertafel aufgemalt. Wenn der Mann mit der Kreide kam, rannten alle dahin. Elektronische Anzeige gab es noch nicht. Schon damals war mit den Noten meist nur der Sieger glücklich.
Die Ausmaße des großen Ochsers entsprachen einem Wochenendhaus
Die Ställe waren für jedermann zugänglich, wer wollte, konnte die vierbeinigen Stars in ihren Boxen besuchen. Ließ sich ein Reiter blicken, wurde er sofort von einer Horde Kinder umlagert, alle wollten ein Autogramm und bekamen meist auch eins. Es gab unter der Jugend ein reges Tauschgeschäft, dreimal Winkler gegen einmal Nelson Pessoa zum Beispiel. Hans Günter Winkler, der trotz schwerer Verletzung mit seiner klugen Halle 1956 olympisches Gold gewonnen hatte, war der Nationalheld, gewiss, aber dem glutäugigen Brasilianer Nelson Pessoa, der mit dem kleinen Schimmel Gran Geste gewann, was er wollte, gehörten die Herzen.
Der Große Preis von Aachen war ein Springen mit Stechen bis zur Entscheidung, auch genannt bis zur Verzweiflung. Am Ende standen da nur noch ein Oxer von den Ausmaßen eines Wochenendhauses und eine Mauer, für die die Parcourshelfer auf eine Leiter klettern mussten, wenn sie die oberen Teile zurechtrücken wollten. Dieser Modus ist zum Glück längst abgeschafft. Auch vieles andere hat sich verändert. Die Ställe sind gesichert wie Hochsicherheitstrakte, ohne Bändchen oder eine in Plastik eingeschweißte Akkreditierung, kommt man nirgendwo hin. Nur selten kreuzt ein Reiter den Weg eines kleinen Autogrammjägers. Dafür werden eigene Autogrammstunden veranstaltet, bezahlt vom jeweiligen Sponsor.
Die Faszination des CHIO ist ungebrochen, bis zu 360.000 Menschen zieht es jedes Jahr in die Soers. Sie sind das Rückgrat des Turniers und schaffen eine Volksfest-Atmosphäre, die auch Sponsoren-Millionen nicht herbeizaubern könnten. Doch am Ende sind es die Pferde, von denen alles und alle leben. Halla, Meteor und Ahlerich, die vierbeinigen Aachen-Helden vergangener Tage, in Ehren – aber die Nachfolger sind besser und schöner, springen geschickter oder piaffieren fleißiger. Auch wenn die Kinder sie nicht mehr im Stall besuchen können, bleiben sie die Hauptdarsteller des CHIO.