Winterspiele 2022 in Peking:Chinas großes Ski-Casting

Winterspiele 2022 in Peking: Heute Schneepflug, übermorgen Olympia? Chinesische Sportler sollen in Garmisch-Partenkirchen ein halbes Sportlerleben aufholen und sich für die Winterspiele 2022 empfehlen.

Heute Schneepflug, übermorgen Olympia? Chinesische Sportler sollen in Garmisch-Partenkirchen ein halbes Sportlerleben aufholen und sich für die Winterspiele 2022 empfehlen.

(Foto: Peter Kornatz)

In Peking 2022 will China eine Weltmacht werden - auf Schnee. Ein Skilehrer aus Garmisch soll helfen, den Skisport zu verstehen. Unterwegs mit Athleten, die zu Medaillenhoffnungen gedrillt werden - und zum ersten Mal auf Skiern stehen.

Reportage von Thomas Gröbner, Garmisch-Partenkirchen

Das Geräusch, das Michael Brunner braucht, erinnert an eine Holzstange, die gegen eine Heizung kracht: "Klonk". Wenn der Skitrainer das hört, weiß er, dass seine Chinesen die Slalom-Stangen touchieren und in den Schnee drücken. "Neun Wochen. Wie sie fahren. Wahnsinn", sagt er. Der Begriff "Wahnsinn" passt ganz gut für dieses Vorhaben. Brunner soll Turner, Fechter, Leichtathleten und Bogenschützen zu alpinen Skifahrern umschulen, die bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking China repräsentieren können.

Ein nicht unerhebliches Problem dabei: das Skifahren. Denn hier, unter der Zugspitze in Garmisch-Partenkirchen, stehen sie zum ersten Mal an einem Berg auf Schnee. "Go!", ruft Brunner. Die Zeit drängt. Er hat nur noch drei Jahre.

Olympia soll "der Moral der Nation neuen Schub verleihen", so hat es Chinas Staatschef Xi Jinping einmal formuliert. Zuletzt aber hat das nicht so funktioniert, nur eine Goldmedaille gab es bei den Winterspielen 2018, für China war das nicht nur sportlich ein Reinfall. "Es gibt Schwermütigkeit und Bedauern über die Ergebnisse", sagte Freestyler Jia Zongyang damals, der immerhin Silber auf der Schanze gewann. "Auf Eis weisen unsere Athleten gute Leistungen auf, aber in den Ski-Wettkämpfen hängen sie hinterher", wird Xi Jinping zitiert. Das passt nicht zum Selbstverständnis Chinas. 2022 aber sind Heimspiele, da soll die Welt Zeuge werden, dass die Nation es geschafft hat, sich im Sport neu zu erfinden. Vom Skianfängerland zur Wintersportnation. Koste es, was es wolle.

Brunner lässt die Kandidaten sprinten, laufen, balancieren

Deshalb begann nach dem Pyeongchang-Debakel eine landesweite Fahndung nach Talenten, in Turnhallen, auf Sportplätzen, in Klöstern. Sogar in einem Shaolin-Tempel wurde gesucht, warum sollten sich nicht auch aus Mönchen schnelle Skifahrer machen lassen? Die in China für Sport zuständige Verwaltung erklärte, dass durch die Fahndung "der Talentpool für Eis- und Schneesportarten angereichert" werden solle. Und hier kam Michael Brunner ins Spiel, der Betreiber einer Skischule in Garmisch-Partenkirchen. Im August 2018 flog Brunner nach China, er reiste an die Enden des riesigen Landes: Nach Nanning, in die "Grüne Stadt", in der es niemals schneit, nahe der Grenze zu Vietnam. Und nach Kaschgar, eine Oasenstadt am Rand der Taklamakan-Wüste, einst Knotenpunkt der Seidenstraße. Dort führte er ein riesiges Casting durch. Gesucht: Chinas next Wintersportler.

China Ski Michael Brunner

"Ich mag Herausforderungen": Michael Brunner soll chinesische Skianfänger binnen drei Jahren fit für Olympia machen.

(Foto: Thomas Gröbner)

500 Sportler wurden ihm präsentiert. Er hatte einen speziellen alpinen Eignungstest entwickelt, nun ließ er die Kandidaten sprinten, laufen, balancieren. "Ich weiß ja schon, worauf es ankommt", sagt Brunner. Athleten mit X-Beinen hatten keine Chance - das Risiko eines Kreuzbandrisses sei zu hoch. Am Ende blieben 35 übrig. Die ersten kamen im Dezember nach Garmisch.

An einem kalten Februarmorgen kramt Brunner in seinen Taschen nach einem Zettel, ohne den das Projekt nicht funktionieren würde. Sein Spickzettel, dreimal gefaltet, darauf die Gesichter, darunter die Namen. Guo Qing, 17, Zahnspange, Mittelscheitel und Andy-Warhol-T-Shirt, ist einer von ihnen. Er sei in China einer der schnellsten 100-Meter-Läufer seiner Altersklasse, stellt sich Guo Qing vor. "Ein Lausbub", sagt Brunner, "aber sehr talentiert." Er lässt die Kandidaten einzeln vorfahren, die Dolmetscherin zeigt ihm auf dem Zettel, wer sich da gerade um die Stangen schlängelt. Brunner macht sich Notizen, bald muss er entscheiden, wer in Garmisch bleiben darf - und für wen der olympische Traum früh zu Ende geht. "Liebe Kinder sind das", sagt Brunner, "aber wer Angst hat, für den wird es schwer."

Chinas Trainingsmethoden sind berüchtigt, die Sportinternate für die Weltklasseturner sind als "Schulen der Schmerzen" bekannt. Der Drill beginnt bei den Kleinkindern. "Chi ku", "Bitternis essen", so lautet die traditionelle Formel zur Qual. Wer bei Olympia eine Medaille gewinnt, darf auf Wohlstand hoffen. Die Söhne und Töchter tragen die Hoffnungen ihrer Eltern, die oft alles dem Erfolg ihres Kindes unterordnen. Es ist eine klassische Aufsteigergeschichte in der chinesischen Version.

Über Michael Brunner schweben die Sessellifte, darüber hängt der graue Garmischer Himmel, der Schnee ist griffig. Die Olympia-Bewerber haben sich am Start aufgestellt, es wird gescherzt, gekichert, geschubst. Die Mädchen tragen Pink, die Jungen Blau, alle sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. Erst einmal eine Technik-Schulung: Brunner geht in die Knie, wischt mit den Händen imaginäre Torstangen zur Seite. "Man muss es vormachen", sagt er, "gelernt wird auch visuell." Am Hang wird sich meist nur mit knappen Befehlen ("Go, go, go!") und kleinen Gesten verständigt. Falls Nachfragen bleiben, hilft später eine Übersetzungs-App auf dem Smartphone. Michael Brunner, 54, scheint das Bergklima konserviert zu haben. Braungebrannt, die Haare zum kurzen Zopf gebunden, er ginge auch für 45 durch. Früher war er selbst nah dran an der alpinen Weltspitze, mit Markus Wasmeier, Doppel-Olympiasieger 1994 in Lillehammer, zählte er zum Nationalteam. Doch mit 22 stürzte er schwer, renkte sich die Hüfte aus - das Karriereende war früh besiegelt.

Hermann Maier? Marcel Hirscher? Noch nie gehört

Heute betreibt Brunner in Garmisch im Winter eine Skischule, im Sommer eine Gleitschirmschule, er ist mit zwei künstlichen Hüftgelenken unterwegs, viel Metall im Körper. "Im Krematorium wird es dann mal richtig scheppern." Bleibt neben dem China-Job noch Zeit, gibt Brunner therapeutische Skikurse für jene, die nach Operationen in Schwung kommen wollen. Aus der Gondel, die über ihn hinweg gleitet, winken Genesende aus seinem Kurs.

Skilehrer aus China hatten Brunner in ihrer Heimat empfohlen, nachdem er mal ein Gaudirennen für chinesische Touristen auf der Zugspitze organisiert hatte. Brunner hat jetzt einen Vertrag mit Chinas Sportbehörde bis zu den Winterspielen in drei Jahren. Er ist mit seinem Projekt jedoch nicht allein: Auch in Japan, Kanada, Österreich, Schweiz und Italien gibt es vergleichbare olympische Castings. Womöglich gibt es sogar mehr, die Projektleiter haben keinen Kontakt untereinander. Offenbar wird hier eine alte Wettkampf-Formel aktiviert: Konkurrenz soll auch Pekings alpines Geschäft beleben.

Am Garmischer Hang wartet Shi Ming, das Smartphone stets im Anschlag. Früher war "Mister Ski", wie er genannt wird, Judotrainer, heute meldet er alpine Fortschritte nach China. Brunner und seine Skilehrer sind nicht rund um die Uhr dabei, sie erzählen, dass Mister Ski auch mal abendliches Straftraining und Zehn-Kilometer-Läufe anordnet, wenn er das für notwendig hält. Après-Ski? Karaoke? Sei verboten, heißt es im Umfeld von Ming. "Alles wird gefilmt, alles dokumentiert", sagt Brunner. Er selbst darf keine Videos oder Fotos veröffentlichen, das musste er unterschreiben. Brunner regelt viel mit Mister Ski, nur die Finanzen nicht. Das läuft direkt über Peking. Geklotzt werde nicht, die Chinesen schauen aufs Geld, erklärt Brunner.

Wie das klappen soll? Brunner hat einen Plan

Mittags in der Garmischer Hütte gibt es Gulasch. Die anderen Gäste bekommen den Kakao schon mal mit einem Schuss Rum, es geht deftig zu, Skilager-Atmosphäre. Mittendrin Guo Qing, der Sprinter, Brunners Lausbub. Guo Qing verehrt Su Bingtian, den chinesischen Läufer und ersten Asiaten, der die 100 Meter unter zehn Sekunden lief. Und natürlich Usain Bolt. Ob er auch Hermann Maier kenne, Österreichs "Herminator"? "Nein." Oder Marcel Hirscher, den besten Skifahrer der Gegenwart, ebenfalls Österreicher? "Nein." Von den Größen des Skisports hat Guo Qing noch nie gehört. Aber er will demnächst gegen sie antreten.

Wie das klappen soll? Brunner skizziert seinen Plan: Im nächsten Winter sollen seine Bewerber in Deutschland erste Rennen fahren. Die erste grobe Richtmarke: Im Ziel 14 Sekunden hinter der Spitze. "Ich glaube, es wird weniger sein", sagt Brunner. Am Ende des Ausbildungsplans steht eine hohe Hürde: Jeder Läufer muss bei internationalen Rennen 140 sogenannter Fis-Punkte sammeln, die der Ski-Weltverband (Fis) verteilt. Das ist der Spalt in der Tür zur alpinen Prominenz. Nur wer durch diese Tür kommt, hat überhaupt eine Chance auf den Olympiastart. "Im Moment sind wir unserem Plan drei Monate voraus", sagt Brunner. Aber was sind drei Monate, wenn ein ganzes Sportlerleben im Schnelldurchlauf nachgeholt werden soll?

China Garmisch Ski

Sechs Tage die Woche marschieren die chinesischen Sportler zum Hausberg in Garmisch.

(Foto: Thomas Gröbner/oh)

"Es wird die gängige Lehrmeinung auf die Probe gestellt", sagt Brunner. Die lautet: Mit vier Jahren auf den Ski stehen, sonst wird es kaum mehr was mit dem Weg an die Spitze. "Bei uns in Deutschland hören die meisten mit vierzehn schon wieder auf", sagt Brunner: "Unsere Chinesen fangen mit vierzehn an." Hört sich an wie Reklame, die ungeheuerliche Resultate verspricht: Abnehmen in 20 Tagen! Six-Pack ohne Training! Medaille in drei Jahren!

China schickt im Gegenzug Tischtennis-Experten

Olympia hatte einst viel Platz für Amateure, Exoten, Verrückte. Auch für einen wie Michael Edwards, bekannt als "Eddie the Eagle". Der Brite mit dicken Brillengläsern schaffte es zu den Spielen 1988 nach Calgary, obwohl der Adler anfangs abstürzte. Doch am Ende erreichte er sein Ziel, weil er einen Trainer traf, der ihn für mehr als einen Sturzflieger hielt. Was sieht Brunner in seinen Schülern? Er sagt: "Ich mag Herausforderungen."

Beim Mittagessen auf der Garmischer Hütte sitzt ihm Tang Jinghang gegenüber, ein Turner mit riesigen Oberarmen. Vor ihm türmen sich ein Schnitzel und eine gewaltige Leberkäsescheibe auf dem Teller. Als die Ski-Azubis ankamen, fiel es ihnen noch schwer, das deftige deutsche Essen zu verdauen. Während er das Fleisch zerlegt, zeigt Brunner auf dem Handy ein Video, wie Tang Jinghang einen Spagat macht. Zwei Mädchen balanciert er auf den Schultern. Auf Skiern ist er von solcher Perfektion noch viele Schwünge entfernt.

Sechs Tage die Woche trainiert die Gruppe, Montag bis Freitag geht es auf die Piste, am Samstag in den Kraftraum. Auch wenn der Schnee schmilzt, sollen sie in Garmisch bleiben. "Ein guter Skifahrer wird im Sommer gemacht", sagt Brunner. Bald sollen sie auch Deutsch und Englisch lernen, sie sollen ja auch was mitnehmen, "fürs spätere Leben". Vielleicht können sie als Skilehrer arbeiten, als Dolmetscher, erzählt Brunner. Ob Chinas Verband das ausgetüftelt hat? Quasi als eine Art Altersvorsorge, wenn es mit Olympia nichts wird? "Nö. Das möchte ich gerne so", sagt Brunner. Denn die meisten auf seinem Zettel mit den Porträts werden es nicht schaffen. Um die Olympia-Ziele des 1,4-Milliarden-Volkes zu realisieren, wurden diverse Verabredungen getroffen. Im "Aktionsplan" mit Norwegen wird zum Beispiel aufgeschlüsselt, wie viele Wachsexperten und Trainer für Skisprung, Biathlon und Langlauf abgestellt werden. Im Gegenzug schickt China seine Tischtennis-Experten. Und in der Schweiz trainiert Jakob Kölliker, der ehemalige Trainer der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft, den chinesischen Hockey-Nachwuchs. "Mit einem solch tiefen Niveau habe ich nicht gerechnet", berichtet er neulich der Schweizer Zeitung Blick.

Überall im Land entstehen Ski-Ressorts

Es geht auch für die Schweiz darum, dabei zu sein, wenn sich China mittels Olympia in einen gewaltigen Markt für Wintersport verwandelt. Die Regierung legte 2016 fest, dass die Zahl der Wintersportler im Land bis Peking 2022 auf 300 Millionen steigen soll. "Der Plan funktioniert", behauptete Thomas Bach, der deutsche Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, bei seinem Besuch Anfang Februar in China. "Wir haben viele Kinder getroffen, die Wintersport lieben." Dass das Land die Menschenrechte seit Jahren noch mehr beschneidet als ohnehin schon? Ist offenbar nicht ganz so wichtig.

Skifahren soll in China der neue Trend für die betuchte Mittelklasse werden. Überall im Land entstehen Ski-Resorts, 2022 sollen es 800 sein. In Shanghai soll dann die weltweit größte Ski-Halle öffnen; aus den Hotelzimmern können die Gäste direkt auf die Piste.

Jene, die diesen Trend stimulieren sollen, schaukeln in den Gondeln über Garmisch. Guo Qing hat Talent, er ist einer der Schnellsten in der Gruppe. Ob es reicht für Olympia? "Zuversichtlich" sei er, schließlich sei es in keinem Sport für Chinesen leichter, zu Olympia zu kommen. Die beste Platzierung bislang: Platz 18 im Slalom von Wang Guizhen, 1980 in Lake Placid.

In der Gegenwart schlagen sich Chinas Skihoffnungen noch mit anderen Problemen herum. Ihr Visum ist am 20. Februar abgelaufen, sie müssen den EU-Raum für einige Zeit verlassen. Die Gruppe übt derzeit auf den Hängen rund um Sarajevo. Nicht alle werden nach Garmisch zurückkehren. Drei Mädchen und ein Junge wurden schon zurück nach China geschickt. "Hart war das, aber sie haben es gut überspielt", sagt Brunner.

Guo Qing, der Lausbub, ist noch dabei. Er vermisst seine Eltern, das heimische Essen, seine Freunde. Und was passiert, wenn die Laufbahn auf Ski scheitert? Dann werde er halt wieder 100 Meter laufen.

1988 in Calgary liebte das Publikum den Skispringer Eddie the Eagle. Bob Jamaika rutschte damals erstmals durch den Eiskanal. Beide Geschichten wurde verfilmt. Den Außenseiter flogen die Herzen zu, weil sie ihren Träumen vertrauten. 2022 setzt nun ein Land darauf, dass unter vielen jemand dabei ist, der durchkommt. Es wäre keine so romantische Geschichte.

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