China bei den Paralympics:Erfolg im Sog des Staatsapparats

China dominiert die Medaillenwertung der Paralympics, und zwar aus gutem Grund: Im Gegensatz zu anderen Nationen bildet das Land behinderte Menschen systematisch zu Profisportlern aus. Sichtungsturniere und Trainingslager gehören zum Standardprogramm.

Thomas Hahn, London

He Junquan ist ein Strich in der Landschaft, denn er hat keine Arme. Er hat im Grunde nicht einmal Schultern, wenn er am Startblock steht, wirkt es immer, als habe jemand am Computer was wegretuschiert, so schnurgerade ist sein durchtrainierter Oberkörper. Für seine Startposition zum Rückenschwimmen nimmt er ein Handtuch zwischen die Zähne, dessen anderes Ende sein Betreuer hält, und dann geht die Post ab.

China's He bites on towel to aid his start in men's 50m Backstroke S5 race during the London 2012 Paralympic Games in the Olympic Park

Ins Handtuch beißen und los: Chinas Schwimmer He Junquan.

(Foto: REUTERS)

He Junquan hat schon oft erzählt, dass er sich immer böse den Kopf anhaut, wenn er im Ziel anschlägt, je schneller er ist, desto schmerzhafter, und He Junquan ist ziemlich schnell. Bei den Paralympics in London hat er am Donnerstagabend Silber über 50 Meter Rücken gewonnen, in 36,41 Sekunden. Es war seine 13. Medaille seit seinem Spiele-Debüt vor zwölf Jahren in Sydney, sieben Mal war er schon Paralympics-Sieger.

He Junquan ist damit Zeitzeuge und Mitgestalter des chinesischen Aufstiegs zur paralympischen Supermacht. Es gibt viele Teams, die mit ihrer Position im Medaillenspiegel zufrieden sein dürfen bei diesen Paralympics. Die Briten zum Beispiel, die schon am Donnerstagabend ihr Ziel von 103 Medaillen-Gewinnen übertrafen. Die Ukraine belegt einen beachtlichen vierten Platz hinter Russland, die Deutschen sind auch ganz gut dabei auf Platz sieben. Aber die Chinesen sind unangefochten. Mehr als doppelt so viele Goldmedaillen wie die zweitplatzierten Briten haben sie - Stand Freitagabend - schon gesammelt, 81 zu 32, bei 204 Medaillen für China insgesamt.

Man darf die Medaillenzählerei nicht zu wichtig nehmen, aber die Bilanzen sagen halt doch ein bisschen etwas über die Trends und Zustände in der Sportwelt. Bei Olympia lagen die USA vor China auf Platz eins der Tabelle, jetzt liegen die Amerikaner abgeschlagen auf Platz sechs. Bei der kommerziellen Olympia-Show vor einem Monat noch vorne, bei den Spielen der bodenständigen Paralympier zurück und auch nur am Rande berücksichtigt von Fernsehrechte-Inhaber NBC - das passt schlecht zum moralischen Anspruch der amerikanischen Sportnation.

Es scheint dem US-Team auch irgendwie unangenehm zu sein. Zum Beispiel Jessica Long, 20, einer charismatischen Schwimmerin ohne Unterschenkel, die im Aquatics Centre schon vier Goldmedaillen für die USA gewonnen hat. Sie erzählt gewinnend über ihre Liebe zum Sport ("Im Wasser bin ich eine Meerjungfrau") und ihre russische Mutter, die sie als Baby an ein Waisenhaus abgab ("Sie war 16, als sie mich bekam"). Aber wenn die Sprache auf das magere TV-Angebot in den Staaten kommt, lobt sie erst die Unterstützung daheim, sagt dann, dass es "immer noch besser werden" könne. Und steht für Nachfragen nicht mehr zur Verfügung.

Sichtungen auf Provinz-Ebene

Chinas Staatssport hat dagegen mittlerweile großes Interesse an den Paralympics. Im Sog ihrer Heimspiele 2008 ist eine konzertierte Behindertensport-Kampagne entstanden, die offensichtlich auf Wachstum angelegt ist. He Junquan kann bestätigen, dass Olympia in Peking die Wahrnehmung der Menschen mit Behinderung im Riesenreich nachhaltig verändert habe. 2000 in Sydney gewannen die chinesischen Paralympier noch 73 Medaillen, 2004 in Athen 141, 2008 daheim 211. Unter 1,3 Milliarden Chinesen finden sich eben auch viele mit Behinderung, die Sportverwaltung musste nur erst verstehen, dass diese Leute in Stadien und Hallen was reißen können fürs Vaterland. Heute gibt es Sichtungen auf lokaler und Provinz-Ebene. Wer besonders gut ist, bekommt die Nominierung fürs Großereignis und bereitet sich darauf mit dem Nationalteam in drei- bis sechsmonatigen Trainingslagern vor.

Schüler und Studenten sind dabei, keine Profis, heißt es. Aber im Informationssystem des Internationalen Paralympischen Komitees geben viele als Beruf "Athlet" an. Zum Beispiel He Junquan, der 34 ist, in Peking lebt und seine Arme als Dreijähriger verlor, als er aus Neugier an die Leitung eines Strommasten fasste. Oder wie Zhao Xu, armamputierter Leichtathlet und Goldgewinner im 100-Meter-Sprint, der sich als Nutznießer eines Gesinnungswandels im chinesischen Staatssport sieht. "Die Regierung hat mir viel geholfen", sagt er, "früher bekamen Chinesen keine Chance, über die erste Runde hinauszukommen. Aber jetzt kriegen wir die Chance, in die Finals vorzudringen."

Das ist natürlich untertrieben. Die Chinesen gewinnen wie die Wilden und leisten auch ihren Beitrag zu einer paralympischen Rekordflut in London, die es wohl nur in Entwicklungssport-Ereignissen mit einer geringen Anti-Doping-Rate von 1250 Tests bei 503 Medaillenentscheidungen geben kann. Allein beim Schwimmen umfasst die Liste der neuen Welt- und sonstigen Rekorde inzwischen mehrere Seiten. Trotzdem geht von der Paralympics-Macht China eine andere Aura aus als von jenem Team aus dem Reich der Mitte, in dem bei Olympia Teenager mit Fabelzeiten Diskussionen entfachten.

Die chinesischen Paralympier wirken stark und doch irgendwie zerbrechlich. Sie strahlen eine Freude aus, die eine große Tiefe in sich hat. He Junquan lacht viel, aber er weiß auch, dass er mit seiner Gestalt und seinem Schwimmen ein Zeichen setzt. "Wenn die Leute, die diese Paralympics betrachten, ihren Kindern erzählen, was sie gesehen haben", sagt der keinarmige He Junquan, "dann wird das zu ihrer Bildung beitragen und sie inspirieren."

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