Wenn die Nacht den Himmel über Belo Horizonte noch nicht verlassen und die Uhr noch nicht mal Fünf geschlagen hat, gehen in Toca de Raposa II, dem Trainingsgelände von Cruzeiro Esporte Club, schon die Lichter an. In einem Zimmer zumindest, dem Zimmer von Chiles Nationaltrainer Jorge Sampaoli. Er fährt dann seinen Rechner hoch und macht genau das, was er getan hatte, ehe er für vier Stunden das Licht ausgeschaltet hatte: Videos von Fußballspielen des kommenden Gegners schauen. Denn seinen Job betreibt Sampaoli mit der Kraft und Besessenheit eines religiösen Fanatikers.
Es sind genau diese Wesensmerkmale der Obsession, die auch der chilenischen Mannschaft anzusehen sind, seit Sampaoli Ende 2012 das Amt des Nationaltrainers übernahm. Seinerzeit folgte er auf seinen argentinischen Landsmann Claudio Borghi, der eher der Typ Trainer ist, der um fünf Uhr morgens ins Bett geht. Sampaoli hat seitdem eine Mannschaft nach seinem Ebenbild geschaffen, die auf dem Platz Raubbau an sich selbst betreibt, um den jeweiligen Gegner im Nahkampf zu zermürben, ihm Fallen zu stellen.
"Selbstmörderisch" nannte Spaniens Trainer Del Bosque den Druck der Chilenen vor der Begegnung am Mittwoch, Chiles Star Arturo Vidal nahm den Kommentar hin, als habe man ihm einen Verdienstorden verliehen. "Selbstmörderisch? Gefällt mir", sagte er vor dem Spiel gegen die Spanier. "Nur wenige Mannschaften können den Druck ausüben, den wir entfachen; wir haben die Physis, das zu tun." Es sei unmöglich, so ein Tempo über 90 Minuten lang aufrecht zu halten, meint Del Bosque. Doch dann gingen sie auch gegen die Spanier mit dieser Spielwut vor - sie gewannen 2:0 und warfen den Weltmeister aus dem Turnier.
Sampaoli wurde in einem argentinischen Provinznest der echten, nicht der sprichwörtlichen Pampa geboren: Casilda, wo es "47 Straßen, vier Plätze und das Recht auf Siesta" gibt, wie die chilenische Zeitung El Mercurio recherchierte. Er hätte eigentlich Profi werden wollen und war bei Newell's Old Boys aktiv.
Doch ein Schien- und Wadenbeinbruch in Teenager-Tagen beendete seinen Traum. Er leistete danach ein Gelübde, das längst gebrochen ist. Es hieß: "Nie wieder Fußball." Er wurde in Casilda Kassierer in einer Bankfiliale und fungierte zeitweise als Dorf-Friedensrichter. Zu Beginn der Neunzigerjahre aber hatte er ein Erweckungserlebnis, das bis heute andauert: Marcelo Bielsa trat als Trainer bei Newell's in Sampaolis Leben. Und prägte es in fast schon absurder Weise.