Der Fußball trägt parareligiöse Züge. Er hat Gläubige, die in Kathedralen pilgern, wird von Profis betrieben, die mitunter besser verdienen als Ablasshändler zu Zeiten Luthers, und strebt nach immer neuen Gottheiten. Es ist also gar nicht so überraschend, dass der Fußball - in Anlehnung an den berühmten Aphorismus von Karl Marx über Religion - als Opium fürs Volk bezeichnet wird - oder verdammt, je nachdem. Überraschend wird's, wenn sich Fußballer weigern, ihrer angeblich betäubenden Wirkung auf eine Gesellschaft nachzukommen - so wie jetzt in Chile, einem Land, das seit 18. Oktober der Länge nach in Flammen steht, von der Atacamawüste bis nach Feuerland.
Erst am Dienstag gingen wieder Hunderttausende auf die Straße, in der Nacht zum Mittwoch kursierte die Angst, der neoliberale chilenische Staatspräsident Sebastián Piñera könne, wie schon vor Wochen, Ausnahmezustand und Ausgangssperre verhängen, des Nachts die Soldaten des Heeres patrouillieren lassen und damit Erinnerungen an Pinochets Militärdiktatur (1973 bis 1990) wecken. Wegen der angespannten Lage im Land hatte Chile unter anderem den Klima- und den Asiengipfel abgesagt, aber dennoch verzweifelt versucht, eine Sport-Großveranstaltung zu behalten, um dem Ausland eine längst verloren gegangene Normalität zu suggerieren: Das Finale der Copa Libertadores, der südamerikanischen Fußball-Champions-League, sollte am 25. November in Santiago stattfinden.
Der Kontinentalverband aber machte Piñera einen Strich durch die Rechnung, das Finale wurde in Perus Hauptstadt Lima verlegt. Am Mittwoch stellte sich jetzt auch Chiles Nationalelf auf die Seite derer, die seit Wochen gegen die Regierung demonstrieren - sie sagte ein für den nächsten Dienstag vorgesehenes Freundschaftsspiel in Peru ab: "Es gibt ein viel wichtigeres Spiel, in dem es um (Chancen-)Gleichheit geht, und darum, viele Dinge zu verändern, damit alle Chilenen in einem gerechteren Land leben", hieß es in der Erklärung des Nationalteams.
"Wir wollen nicht ein Chile für wenige. Wir wollen ein Chile, das allen gehört!"
Die Fußballer unterstützen die Demonstrationen: "Chile braucht Frieden, aber auch, dass die Forderungen, die diese Bewegung ausgelöst haben, nicht in Vergessenheit geraten." Nationaltrainer Reinaldo Rueda zeigte Respekt für die Entscheidung seiner Spieler: "Sie glauben, dass es die beste Art ist, Solidarität zu zeigen. Das ist in meinen Augen sehr anerkennungswürdig."
Schon seit Wochen zeigen Chiles Fußballprofis ein Maß an Politisierung, das man kaum für möglich gehalten hätte. Bereits im März nutzte Nicolás Maturana, Profi bei Universidad de Concepción, ein Interview nach einem Spiel, um gegen die Strompreise zu wettern - und die Folgen für breite Bevölkerungsschichten. Während in internationalen Medien noch das Wort von Staatschef Piñera nachhallte, Chile sei "eine Oase", fasste Nationaltorwart Claudio Bravo die über Jahrzehnte gewachsenen Gründe für die angeblich überraschende Rebellion zusammen: "Sie haben unser Wasser, den Strom, das Gas, die Bildung, die Renten, die Medikamente, die Straßen, die Wälder, die Salzfelder der Atacama-Wüste, die Gletscher und den Transport privatisiert. Wir wollen nicht ein Chile für einige wenige. Wir wollen ein Chile, das allen gehört", schrieb Bravo.
Den vielleicht spektakulärsten Auftritt aber legte der stillste Profi von allen hin: Charles Aránguiz, Mittelfeldspieler bei Bayer Leverkusen und - wie Kapitän Gery Medel, der frühere Bayern-Profi Arturo Vidal und Bravo - eine Säule der chilenischen Teams, die 2015 und 2016 die Copa América gewannen: "Wenn ich zu Hause wäre, würde ich an der Seite meiner Leute mitmarschieren und kämpfen", sagte Aránguiz in einem Radiointerview.