Süddeutsche Zeitung

Chile bei der Fußball-WM:Mit Bleifuß durchs Turnier

Chile trifft im dritten Gruppenspiel auf Holland. Da der Achtelfinalgegner erst später ermittelt wird, ist ein taktisches Spiel der Südamerikaner unwahrscheinlich. Ihr dynamischer Stil hat Erfolg gebracht - und weckt das Interesse der Vereine.

Von Javier Cáceres, Belo Horizonte

Sich schonen? Die Chilenen? Bei der Fußball-Weltmeisterschaft? "Können wir gar nicht", beteuert Sebastian Beccacace, als Assistent von Chiles Nationaltrainer Jorge Sampaoli so etwas wie der Hansi Flick der Andenkordillere, wenn man ihn fragt, ob es nicht an der Zeit wäre, die Seele wenigstens für ein paar Momente baumeln zu lassen.

Die Qualifikation fürs Achtelfinale ist ja nach zwei Siegen gegen Australien und den Titelverteidiger Spanien vorschnell erreicht worden; ob man nun in der Runde der letzten 16 auf Brasilien oder ein anderes Team der Gruppe A trifft (Kroatien? Mexiko?), können sich Chilenen (und Niederländer) nur bedingt aussuchen. Der letzte Spieltag der Gruppe A (Brasilien gegen die ausgeschiedenen Kameruner, Mexiko gegen Kroatien) findet Stunden nach dem Gruppenfinale zwischen Niederländern und Chilenen in São Paulo statt.

Holland kritisiert Spielplan

"Alles ist so geregelt worden, dass Brasilien sich aussuchen darf, ob sie gegen Holland oder Chile spielen wollen", brachte es das Algemeen Dagblad in den Niederlanden auf den Punkt. So gesehen ist es aus chilenischer Sicht wohl tatsächlich ratsam, den Gedanken zu verwerfen, ob es nicht vielleicht doch ratsamer wäre, Gruppenzweiter zu werden, und stattdessen die bisherige Dynamik zu pflegen. Sie lautet: mit Bleifuß, Blinksignal und Standlicht auf der linken Fahrspur durchs Turnier. Immer schön an der Leitplanke entlang.

Bislang haben die Chilenen diese von Sampaoli vorgeschlagene Form der Fortbewegung mit derart viel Elan mitgetragen, dass man meinen konnte, die gesamte Expedition habe jede Form der Reflexion für die Dauer der WM hintangestellt. So gesehen war es fast schon Aufsehen erregend, dass Mittelfeldspieler Charles Aránguiz von Internacional Porto Alegre so etwas wie einen eigenen Willen formulierte. Aránguiz war beim Sieg gegen Spanien nicht nur als Schütze zum 2:0 erfolgreich, er holte sich eine - inzwischen überstandene - Knieblessur sowie eine gelbe Karte ab, bei einer weiteren Verwarnung droht eine Sperre fürs dritte Achtelfinale der Chilenen seit 1998. "Ich würde mich schon gerne schonen", gestand nun also Aránguiz vor der Abreise aus Belo Horizonte nach São Paulo. "Aber wenn der Trainer auf mich zählen möchte, werde ich an die gelbe Karte keinen Gedanken verschwenden."

Offen war auch am Sonntag noch, ob Arturo Vidal gegen die Niederlande zum Einsatz kommen wird. Er hielt im Spiel gegen Spanien zwar fast 90 Minuten lang durch, ein wenig zwickt das Anfang Mai operierte Knie aber dennoch. Noch wichtiger: Auch Vidal ist wie Aránguiz vorbelastet, bei einer weiteren Verwarnung würde Rey Arturo, König Artur, im Achtelfinale fehlen. "Ich will immer spielen. Wir werden aber sehen, was besser ist", sagte Vidal. Vorsichtshalber ließ Sampaoli im Training eine mögliche Startelf ohne Vidal, aber mit Jorge Valdivia üben. Er ist einer der wenigen wirklichen Spielgestalter, die bei der WM agieren - und gerade in Brasilien als Jorgito überaus beliebt, weil er schon diverse Arbeitsjahre bei Palmeiras hinter sich hat, einem der großen Klubs des Spielorts São Paulo.

Ob Valdivia auch im kommenden Jahr noch bei Palmeiras agieren wird, ist eine gute Frage. Auch sein Marktwert hat sich bei dieser WM erhöht, am ersten chilenischen WM-Sieg gegen Australien war er mit einem wundervollen Treffer beteiligt. An der Gerüchtebörse wird Valdivia als ein möglicher Zugang für die Fiorentina gehandelt, der SSC Neapel soll Interesse signalisiert haben. Valdivia wird nachgesagt, eine Bewerbung bei Olympique Marseille eingereicht zu haben, wo der frühere chilenische Nationaltrainer Marcelo Bielsa vor Kurzem einen Vertrag unterzeichnete.

Ausflug ins Einkaufszentrum

Doch nicht nur Valdivias Name sorgt auf dem Transfermarkt für Bewegung: Das Interesse an chilenischen Fußballern ist spürbar größer geworden. Stürmer Jean Beausejour soll auf der Einkaufsliste von Bielsa stehen, ebenso Eduardo Vargas, der zuletzt leihweise beim FC Valencia in der spanischen Primera División für Tore sorgte. Offen ist weiterhin die Zukunft von den beiden unbestrittenen Stars der Chilenen: Der frühere Leverkusener Vidal wird schon länger von Real Madrid und dem FC Barcelona umschwärmt, allerdings hat sein aktueller Verein Juventus Turin bereits signalisiert, dass man unterhalb eines Preises von rund 80 Millionen Euro gar nicht verhandele. Doch auch der Trainer der Niederländer, Louis van Gaal, soll ein Auge auf Vidal geworfen haben - er wird ja im kommenden Jahr die Übungen bei Manchester United leiten.

Etwas anders sieht die Lage bei Alexis Sánchez aus, der zurzeit beim FC Barcelona spielt, der nun seinen Nationalmannschaftstorwart Claudio Bravo verpflichtet hat. Sánchez wird von Juventus Turin, aber auch von britischen Premier-League-Klubs umgarnt. Unter anderem vom FC Liverpool, der sich auf den Abschied des uruguayischen Stürmers Luis Suárez einstellen muss. Die Frage ist, wie sehr diese Spekulationen die einwandfreie Konzentration der Chilenen stören. Ein wenig aber öffnet der bislang gestrenge Trainer Sampaoli selbst die Hand. Vor ein paar Tagen durften ein paar Spieler erstmals das Trainingsgelände verlassen und für einige Stunden in ein Einkaufszentrum gehen. Es heißt, es seien keine Desertionen zu beklagen gewesen.

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SZ vom 23.06.2014/mane
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