Chile:Abschied vom Kamikaze-Fußball

Chile: Rabiat Einsatz: Chiles Gary Medel (rechts) und Brasiliens Torhüter Ederson.

Rabiat Einsatz: Chiles Gary Medel (rechts) und Brasiliens Torhüter Ederson.

(Foto: AFP)

Von Javier Cáceres

Es dauerte 90 Minuten, bis die Chilenen ihre Kabine in São Paulo wieder verlassen hatten, und es war nicht nur die Enttäuschung über die letztlich spektakulär verbaselte Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018, die tief saß und zu Auseinandersetzungen führte. Sondern mutmaßlich auch eine Botschaft von Carla Pardo, der Ehefrau von Claudio Bravo, dem Tormann und Kapitän.

All ihren Frust und ihren Zorn hatte Frau Bravo, die in den Medien auch als "la capitana" geführt wird, in ein Sozialnetzwerk gegossen und damit die Diskurshoheit über die Lage der Nation zwischen Feuerland und Atacama-Wüste übernommen. Denn nicht nur Trauer tat sie kund, sondern wohl auch manch bittere Wahrheit, die erklärt, warum die in den vergangenen Jahren für ihren besinnungslosen Kamikaze-Fußball bewunderten Chilenen in Russland nicht dabei sein werden.

"Danke für alles, was wir erleben durften, mein Captain America, es war wirklich wundervoll", schrieb also Frau Bravo, und ging unter Verwendung putziger Metaphern zur Attacke über. "Wenn man das Trikot anzieht, muss man professionell sein. Ich weiß, dass die meisten sich den Arsch geschoren haben, während andere bloß feiern gingen und wegen Trunkenheit nicht mal trainieren konnten ... Wem der Hut passt, soll ihn aufsetzen und aufhören herumzujammern", schrieb sie noch. Und meinte wohl vor allen Arturo Vidal vom FC Bayern, der Chiles 0:3 in der Nacht zum Mittwoch in München per Stream verfolgt hatte. Er war, gelbgesperrt, von seinem Klub nach München beordert worden.

Der Verdacht, dass Frau Bravo vor allem Vidal meinte, lag nicht nur deshalb nahe, weil er wirklich herzzerreißend jammerte: "Meine Seele ist zerstört." Sondern vor allem, weil Vidal Ende August, als Chile die WM-Qualifikation noch in der eigenen Hand hatte (bevor es daheim gegen Paraguay verlor), wegen einer nächtlichen Eskapade im Casino in die Schlagzeilen geraten war. Ob die "Kapitänin" einen wahren Kern transportiere, wollte Trainer Juan Antonio Pizzi nicht erörtern, "ich kommentiere keine Aussagen Dritter", sagte der Coach, nachdem er noch in São Paulo seinen Rücktritt erklärt hatte. Kapitän Bravo wiederum, der das 0:3 mit einem schrecklichen Fehler zum 0:1 durch Paulinho eingeleitet hatte (restliche Tore durch Gabriel Jesús), ließ die Aussagen der "capitana" ebenfalls stehen: "Ich rede nicht über Klatsch." Der Leverkusener Charles Aránguiz, der trotz einer Muskelverletzung eine Halbzeit lang spielte, gestand immerhin ein, dass es Zeit sei für Selbstkritik.

Die ist überfällig. Denn dass Chile nur ein Jahr nach dem zweiten Copa-América-Sieg in Serie und als Confed-Cup-Finalist schon jetzt "das Ende der Goldenen Generation" betrauern muss, kommt viel zu früh. Die Chilenen stehen vor einem Umbruch ins Nichts: Nachfolger für die Spieler, die dem Land 2015 und 2016 erstmals internationale Titel bescherten, sind nicht in Sicht. Kapitän Bravo denkt über ein Ende seiner Nationalmannschaftskarriere nach; der frühere HSV-Retter Marcelo Díaz wurde von Pizzi ausgebootet, Bayern-Profi Vidal klang mehr nach Adiós denn je: "Danke für alles, Jungs. Für all die Jahre, die wir zusammen verbracht haben; dafür, dass ihr in jedem Spiel das Leben gegeben habt", schrieb Vidal am Ende eines Abends des subkontinentalen Wahnsinns, der sich in Chile zugespitzt hatte. (Tags dadaruf relativierte er: "Jedes Mal, wenn sie mich fragen, stehe ich meiner Auswahl zur Verfügung.") Denn dass die Chilenen all ihren angesammelten Durst auf Wodka nun mit heimischem Pisco löschen müssen, haben sie sich selbst - und unglaublich bizarren Konstellationen - zuzuschreiben.

Venezuelas Trainer berichtet von Damenbesuchen im Teamhotel

Hätte Chile nicht erfolgreich vor dem Internationalen Sportgerichtshof Cas gegen Bolivien protestiert, stünde Peru jetzt nicht vor Chile und damit auf dem Relegationsplatz, der zu Duellen mit dem Vertreter Ozeaniens berechtigt. Sondern dahinter. Zur Erinnerung: Chile hatte vor einem Jahr Einspruch gegen das beschämende 0:0 gegen Bolivien eingelegt, weil der Gegner einen gebürtigen Paraguayer namens Cabrera eingesetzt hatte, der nicht spielberechtigt war. Chile bekam recht - und zwei zusätzliche Punkte zugesprochen. Peru hängte sich an den chilenischen Protest dran - und erhielt drei Punkte, weil die Peruaner gegen Bolivien verloren hatten. Nur deshalb war nun in der Endabrechnung zwischen Peru und Chile das Torverhältnis ausschlaggebend, und da stand Peru nach dem 1:1 vom Dienstag gegen Kolumbien mit "plus 1" knapp vor den Chilenen ("minus 1"). Und selbst das hatte eine so dramatische wie groteske innere Geschichte.

Denn am Dienstag war Peru nach dem 0:1 durch den Bayern-Profi James Rodríguez (56.) erst ausgeschieden. Dann aber bekam Peru in der 79. Minute einen Freistoß zugesprochen - und der frühere HSV- und Bayern-Profi Paulo Guerrero erzielte den kuriosen Ausgleich. "Er ist indirekt, Paolo, der Schiedsrichter hat den Arm oben!!!", rief verzweifelt der peruanische TV-Kommentator ins Mikro. Doch Guerrero zielte direkt. Zu seinem Glück aber boxte Kolumbiens Torwart David Ospina den Ball ins Netz, der Treffer zählte also. Später war zu sehen, dass Kolumbiens Stürmer Radamel Falcao hinter vorgehaltener Hand auf dem Rasen auf die Peruaner einredete. Die Vermutung: Falcao rechnete den Peruanern vor, dass das 1:1 beiden nützte: Kolumbien war direkt qualifiziert, Peru hatte als Tabellen-Fünfter den Relegationsplatz sicher.

Nichtangriffspakt in Lima

Qualifizierte Teams für die Fußball-WM

EUROPA (13 WM-Plätze + Gastgeber)

Russland (Gastgeber), Deutschland, Polen, England, Belgien, Spanien, Island, Serbien, Frankreich, Portugal.

ASIEN (4 WM-Plätze, 1 Playoff-Platz)

Iran, Südkorea, Japan, Saudi-Arabien.

AFRIKA (5 WM-Plätze)

Nigeria, Ägypten.

SÜDAMERIKA (4 WM-Plätze, 1 Playoff-Platz)

Brasilien, Uruguay, Argentinien, Kolumbien.

NORD-/MITTELAMERIKA (3 + 1 Playoff)

Mexiko, Costa Rica, Panama.

In der Schlusssequenz in Lima bot sich tatsächlich so etwas wie ein Nichtangriffspakt, der im Jubel erstarb. Denn weil der Ozeanien-Vertreter Neuseeland heißt, glauben die Peruaner, dass ihre erste Endrundenteilnahme seit der WM 1982 in Spanien sicher ist. Sollte dem so sein, würden sie nicht nur Kolumbien, sondern auch Uruguay, Argentinien und das schon lange qualifizierte Brasilien nach Russland begleiten. Die Argentinier siegten dank dreier Tore von Lionel Messi 3:1 in Ecuador.

Ausgeschieden sind dagegen die Paraguayer, die daheim gegen das abgeschlagene Schlusslicht Venezuela den Sieg verfehlten, der sie direkt qualifiziert hätte. Venezuelas Coach Rafael Dudamel berichtete von "vielen gefährlichen Anrufen der Sorte, die Karrieren zerstören" - Bestechungsversuchen also -, sowie von "viel weiblichem Besuch" im Teamhotel. Venezuela siegte nicht nur 1:0, sondern wahrte die Würde, sagte Dudamel, und ließ mit einem Satz, der bestens auf die leidenschaftsreiche WM-Qualifikation in Südamerika passte, erkennen, dass das nicht einfach war: "Das Casting war schon gut."

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