Etwas mehr als zwei Wochen ist es her, da wurden beim VfB Stuttgart die kurzfristigen Prioritäten festgesetzt. In Turin, am Tag vor dem Gastspiel in der Champions League, ging es intern um die Gegner-Serie Juventus-Kiel-Kaiserslautern-Leverkusen. Ein bunt gemischtes Quartett aus drei unterschiedlichen Wettbewerben war das, verbunden mit der Erkenntnis, dass zwei Pflichtsiege dringend nötig sein würden - und daneben, in Turin und Leverkusen, so viele Punkte wie möglich eingesammelt werden sollten. Eine Art ernsthaftes Zusammenraufen einer müden Mannschaft sollte das werden, die bis Anfang November die Richtung ihrer Saison vorgeben wollte - und das dann auch tat.
Man muss dem VfB gratulieren: Einen Sieg in Turin, einen Heimsieg gegen Kiel, ein Pokal-Weiterkommen gegen Kaiserslautern und ein Unentschieden gegen Leverkusen später stehen die Stuttgarter insgesamt sehr vernünftig da. Auch wenn sich am Mittwochabend bemerkbar machte, was passieren kann, wenn man sich einmal nicht entschlossen genug zusammenrauft.
Über die Heimpartie gegen Atalanta Bergamo in der Champions League dachte man damals in Turin noch gar nicht nach. Zu groß waren die (im DFB-Pokal gar existenziellen) Herausforderungen, um sich frühuzeitig ausführlich auf die Mannschaft des schlauen Gian Piero Gasperini vorzubereiten. Das Ergebnis war auf dem Rasen zu sehen. Um Atalanta Bergamo zu entschlüsseln und dann auch noch zu bezwingen, bräuchte es vermutlich Zeit für einige Wochen Videostudium sowie einen vollumfänglich fitten und in Form befindlichen Kader. Beides allerdings hat der VfB Stuttgart derzeit leider nicht, worin der Erklärungsansatz für dieses klare 0:2 im eigenen Stadion liegen dürfte.
Eine Art Lehrstunde erhielt der VfB da von einer der aktuell formstärksten Mannschaften Europas. „Wir müssen unserem Gegner Respekt zollen für diesen Auftritt hier“, sagte Trainer Sebastian Hoeneß nach dem Spiel: „Sie zeigen das, was sie ausmacht, Woche für Woche. Sie verteidigen sehr diszipliniert, sind sehr erfahren, sehr abgezockt in ihrer Spielweise und brauchen nicht viel.“
Als Tabellen-27. hat der VfB noch Hoffnung aufs Weiterkommen
Perfekt aufeinander abgestimmt begegneten die unheimlich nervigen Eins-gegen-Eins-Verteidiger aus Bergamo dem VfB ab der ersten Minute. Die gewohnte Kombinationssicherheit in der Offensive, die Übersicht, mit der Angelo Stiller und Atakan Karazor normalerweise das Spiel aus dem Mittelfeld dirigieren, die Flanken von Maximilian Mittelstädt und Josha Vagnoman - all das musste unter Hochdruck geschehen, weil sich ständig ein Gegner fand, der den Stuttgartern schon auf den Füßen stand, als der Ball noch auf dem Weg zu ihnen war. Zermürbend ist diese Taktik, von der sie in Leverkusen nach dem 0:3 verlorenen Europa-League-Finale im vergangenen Sommer noch heute schlecht träumen. Wer gegen dieses Bergamo spielt, muss davon ausgehen, dass sich irgendwann Fehler ins eigene Spiel einschleichen.
Vor dem 0:1 war es in der 51. Minute Charles De Ketelaere, der Mittelstädt mit einem Dribbling entwischte und auf Ademola Lookman in der Mitte ablegte. Vor dem 0:2 war es ein Fehler von Anthony Rouault, der als letzter Mann den Ball an Nicoló Zaniolo verlor, worauf dieser in der 88. Minute die Partie entschied. Offensiv war der bemühte, aber auch spürbar müde VfB nur zweimal gefährlich vor das Tor gekommen; dabei war auch klar erkennbar, warum Atalanta neben Inter Mailand eine von nur zwei Mannschaften im Wettbewerb ist, die noch kein Gegentor kassiert hat.
Viel Neues gelernt über den VfB Stuttgart hat man insofern nicht. So wie Hoeneß' Mannschaft in den vergangenen Wochen bewiesen hatte, wozu sie am Leistungslimit fähig ist, so bemerkte man nun eben auch die Unterschiede zu Europas Besten - zu denen der VfB noch nicht zählt. Als 27. in der Tabelle und bei Ansicht des Restprogramms gibt es allerdings noch sehr berechtigte Hoffnungen auf ein Weiterkommen, die eingeschlagene Saison-Richtung stimmt weiterhin. Und daneben lockt die Aussicht auf eine dringend benötigte Pause: Einmal noch müssen sich die Stuttgarter zusammenraufen, am Sonntag gegen Frankfurt, dann herrscht zumindest ein bisschen Ruhe - allerdings nicht für die Spieler, die zu ihren Nationalteams reisen. Und das sind - der Preis des Erfolgs - inzwischen ein paar mehr, als einem Vereinstrainer lieb sein kann.