Champions-League-Turnier:"Wie eine Fahrt ins Büro"

Die Finalrunde schuf eine ungewohnte Atmosphäre. Jorge Valdano, Weltmeister von 1986, über Ballkünstler ohne Publikum, eine neue deutsche Trainerschule - und die Enttäuschungen von Lionel Messi.

Interview von Javier Cáceres

Die Sonne schimmert durch die Kronen der Bäume, die die Avenida Liberdade im Zentrum von Lissabon säumen, und Jorge Valdano fragt sich, ob er je in dieser Stadt gespielt hat. Am Ende verneint er das. Aber er erinnert sich, dass er 1975, als er aus Argentinien nach Europa kam, um in Spanien als Fußballprofi zu arbeiten, in Vitoria aus dem Flugzeug stieg und anderntags mit Alavés sein erstes Spiel gegen Sporting Lissabon bestritt: "Ich habe drei Tore geschossen und in der ganzen restlichen Saison nur noch drei weitere Tore erzielt!" Es hat seinen Ruf nicht geschmälert, im Gegenteil. Er landete über Real Zaragoza bei Real Madrid, wurde dort mehrmals Meister und auch Uefa-Cup-Sieger, später Trainer und Manager. Nach Lissabon - eine Stadt, die dem von ihm verehrten Schriftsteller Jorge Luis Borges einen Park gewidmet hat - reiste der wortgewaltige Fußballdeuter als Kommentator für das spanische Fernsehen; er hat sämtliche Spiele des Champions-League-Finalturniers in den Stadien verfolgt.

SZ: Herr Valdano, Sie sind nun seit zwei Wochen hier. Haben Sie so etwas wie ein Champions-League-Feeling verspürt?

Jorge Valdano: Im Gegenteil. Diesem Fußball fehlt die Seele. Dieses Turnier wird in den Statistiken auftauchen. Aber es wird nur der Abschluss eines Jahres sein, in dem sich der Fußball in etwas anderes verwandelt hat. Der Fußball hat eine volkstümliche Seele. Er hat über die Jahrzehnte eine kulturelle Dichte erlangt und alle Gesellschaftsschichten durchdrungen. Die Menschen drücken das über Gefühle aus, die aus den Stadien in die TV-Übertragungen fließen. Jetzt sehen wir diese Emotionen weder in den Stadien noch im Fernsehen. Es ist verstümmelter Fußball. Es ist alles so künstlich, dass man fast Lust bekommt, nicht den echten, sondern den aufblasbaren Pokal zu überreichen, der auf dem Praça Dom Pedro steht. Aber: Es ist die Champions League! Und sie zählt wie alle anderen auch.

War es das wert, den Fußball ohne Zuschauer stattfinden zu lassen?

Ja, denn dies ist eine Industrie, und diese Industrie kann man nicht einfach anhalten. Ich glaube, der einzige Nutzen dieser Krise ist, dass die Industrie weniger fahrlässig handeln wird. Die blinden Wetten auf die Zukunft mancher Klubs werden erst einmal abnehmen. Denn wie soll man sie jetzt abschließen, wenn man nicht einmal weiß, was für einen Fußball es in einem Jahr geben wird - und ob es Fußball geben wird?

In Deutschland tobt eine Debatte, ob man zumindest teilweise das Publikum in die Stadien lässt. Wobei der Bundesligist Union Berlin das ganze Stadion öffnen will.

Fußball in einem Stadion ohne Zuschauer ist, mit Verlaub, Scheiße. Fußball in einem halbvollen Stadion mag eine halbe Scheiße sein. Doch es bleibt Scheiße. Diese Ausnahmesituation wird sich nicht von heute auf morgen ändern. Man sieht es ja: Sobald man uns Menschen von der Leine lässt, entsteht eine Dynamik von neuen Infektionsherden. Wir leben in Zeiten der Pest. Bis der Impfstoff da ist.

Sie haben das gesamte Finalturnier in Lissabon auf der Pressetribüne erlebt. Wie war es für Sie, der so viele Spiele gespielt und gesehen hat, ins Stadion zu gehen?

Es war wie eine montagmorgendliche Fahrt ins Büro. Das hatte nichts von Feiertag. Es hatte nicht einmal etwas von einem Sonntagnachmittag. Mir ist es wahnsinnig schwergefallen, mich auf die Spiele einzulassen. Es fehlt der emotionale Faktor, mit dem dich das Publikum ansteckt. Und für die Spieler muss das noch schwieriger gewesen sein. In jedem Fußballer steckt ein Künstler, der ein Publikum braucht, um seine szenische Eitelkeit befriedigt zu sehen. Die Zuschauer auf den Tribünen sind Teil des Spiels, und sie denken auf der Ebene der Leidenschaft sogar für den Spieler mit. Das lässt sich nicht dadurch ersetzen, dass man sich vor Augen führt: Es gucken doch Millionen an den Bildschirmen zu. Das funktioniert nicht per Fernsteuerung.

Champions League - Quarter Final - Atalanta v Paris St Germain

„Diesem Fußball fehlt die Seele“: Die Pandemie hat die Menschen aus den Stadien vertrieben. Spieler aus Bergamo und Paris gedenken in Lissabon in einer Schweigeminute der Opfer der Coronavirus-Infektion.

(Foto: Reuters)

Am Freitag haben Sie das Europa-League-Finale aus Köln zwischen Sevilla und Inter Mailand am Fernseher verfolgt, in einem Restaurant. Kam da so etwas wie Atmosphäre auf?

Nein. Obwohl da bestimmt zwanzig Briten waren, alles junge Leute. Aber das Spiel auf den Bildschirmen interessierte sie überhaupt nicht. Nullkommanull. Der einzige Tisch im ganzen Laden, der sich durch das Spiel angezogen fühlte, war meiner. Auch das Champions-League-Turnier weckt keine Aufmerksamkeit, obwohl es in Lissabon stattfand. In den hiesigen Sportzeitungen ging es auf den Titelseiten nur darum, ob Edinson Cavani (ein uruguayischer Stürmer, Anm. d. Red.) bei Benfica unterschreibt. Die Champions League war eine Randnotiz.

Wie interpretieren Sie das?

Dass die Idee einer europäischen Liga, die einst kursierte, eine Illusion ist, die sich nicht verwirklichen lässt. Fußball ist ein Phänomen der Repräsentation, das von seiner unmittelbaren Nachbarschaft lebt. Man repräsentiert erst den Stadtteil, in den man hineingeboren wird, und das zieht dann Kreise, springt aus dem Viertel in die Stadt, in die Region, ins Land. Aber an den nationalen Grenzen stößt die Leidenschaft an Grenzen.

Welche fußballerischen Schlüsse ziehen Sie aus diesem Turnier?

Die fundamentale Lektion ist, dass sich der Fußball nicht mehr in Stücke zerteilen lässt. Jene, die sagen, dass der Fußball nur taktischen oder nur mentalen oder nur physischen oder - wie beim sogenannten Tikitaka - nur technischen Obsessionen gehorcht, müssen einsehen, dass der Fußball heutzutage total sein muss.

Was meinen Sie damit konkret?

Alle Fußballer müssen in alle Aufgaben eingebunden sein. Wenn du Erfolg haben willst, müssen sich alle dem Ball verpflichtet fühlen. Alle müssen den Ball haben wollen, alle müssen imstande sein, einen Pass über 20 Meter zu schlagen, alle müssen rennen... Sogar, wenn dein Name Leo Messi lautet und du beim FC Barcelona spielst. Wenn einer nicht rennt, hast du ein Problem. Wenn nur zwei nicht rennen, bist du verurteilt. In einigen Teams herrschte ein Kastensystem vor. Aber der heutige Fußball erlaubt es dir nicht, das beizubehalten.

Die Mannschaften mit schillernden Figuren haben sich gewissermaßen demokratisiert?

Das Talent ist weiterhin wichtig. Das zeigen Spieler wie Messi, oder Neymar und Kylian Mbappé bei Paris St.-Germain. Aber die kollektiven Faktoren setzen sich durch. Die gute Nachricht lautet: Es gibt keine Mannschaften mehr, die auf ein Ergebnis spekulieren, also Mannschaften mit eminent defensiven Zügen. Der letzte verbleibende Bannerträger ist da Atlético Madrid von Trainer Diego Simeone - eine Mannschaft, die darauf aus ist, ihr Heil zu suchen, bis sie ein Tor erzielt, und dann das Erreichte zu hüten. Olympique Lyon geht auch noch in die Richtung. Aber die Tendenz ist eine andere. Und das hat viel mit Pep Guardiola zu tun. Er hat dem Weltfußball sein Siegel aufgedrückt.

Wie äußert sich das?

Sogar in meinem Heimatdorf ist es mittlerweile so, dass der Innenverteidiger offen zum Ball steht und den gegnerischen Mittelfeldspielern entgegenstürmt, um die generische Reihe auseinanderzudividieren. Das ist dem neuen Zyklus geschuldet.

Der frühere FC-Bayern-Profi Bixente Lizarazu sagte am Wochenende im SZ-Interview, ihm seien diese Risiken zu groß. Sie würden erklären, warum wir so viele Abwehrfehler sahen. Einverstanden?

Jorge Valdano during the presentation of the strategic alliance between Movistar and Laliga October 4, 2019. PUBLICATION; Valdano

Jorge Valdano, 64, war Fußballspieler, Trainer und Manager. Geboren wurde er in Argentinien. Seine größten Erfolge feierte er mit Argentiniens Nationalmannschaft und von 1984 bis 1987 bei Real Madrid. In jene Zeit fiel auch der WM-Gewinn 1986 in Mexiko; mit vier Treffern war er nach Diego Maradona Argentiniens erfolgreichster Schütze. Als Trainer führte er Real Madrid 1995 zur spanischen Meisterschaft. Jorge Valdano, der Jura studierte, ist Autor mehrerer Fußballbücher. Heute arbeitet er unter anderem als Kommentator.

(Foto: David Jar/imago)

Alle neuen Tendenzen rufen immer Exzesse hervor. Und es ist weiterhin so, dass bevorzugt die Spieler unter Druck gesetzt werden, die technisch weniger gerüstet zu sein scheinen. Auch wenn die alten Vorurteile nicht mehr so stimmen - im Zweifelsfall sind die Abwehrspieler und die Torhüter am verwundbarsten.

Würden Sie sagen, dass es trotz der Geisterspielatmosphäre gute Spiele gab?

Es ist eine Frage der Übung. Die Mannschaften haben gelernt, auch ohne Publikum die nötige Motivation zu finden. In den ersten Spielen nach der Corona-Pause gab es wenige Fouls, jetzt sind wir wieder bei den normalen Zahlen angelangt. Die Spiele hatten am Anfang keine Kontinuität, jetzt gibt es Spielfluss. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass die Deutschen bei diesem Gewöhnungsprozess einen Vorsprung hatten. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass die Bundesliga den Wettbewerb früher wieder aufgenommen hat als andere. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass es Deutsche sind.

Sie vermuten: Es ist eine Frage der Mentalität?

Die Fans spielen eine wichtige Rolle dabei, den Mannschaften so etwas wie Pflichtbewusstsein zu vermitteln. Hier gab es keine Fans. Die deutschen Mannschaften und jene mit einem gewichtigen deutschen Einfluss, also Teams mit deutschen Trainern, erweckten den Anschein, sich ihrer Pflicht bewusster zu sein als andere.

Dass im Halbfinale zwei deutsche Mannschaften, also Leipzig und der Finalist FC Bayern, und drei deutsche Trainer standen - nämlich Hansi Flick (Bayern), Thomas Tuchel (Paris St.-Germain) und Julian Nagelsmann (Leipzig) - war demnach kein Zufall?

Mein Eindruck ist, dass Deutschland die spanische Schule so gut kopiert und weiterentwickelt hat, dass es allmählich empfehlenswert wäre, dass Spanien Deutschland kopiert. Die Mannschaften von Thomas Tuchel, Hansi Flick, aber auch Jürgen Klopp scheinen eine Treppenstufe über den Spaniern zu stehen.

Sind die Trainer wichtiger geworden?

Sie üben auf das Spiel einen großen Einfluss aus. Bei Leipzig hatte ich das Gefühl, dass das Libretto des Trainers ein prächtiges Spiel auslösen kann. Das hat man in den Spielen gegen Tottenham, vor allem in London, und hier dann gegen Atlético Madrid gesehen. Aber den Spielern fehlen die Reflexe, wenn der Gegner das Libretto verändert, weil er etwas Unerwartetes tut. Die Spieler haben Schwierigkeiten, das Spiel ohne den direkten Einfluss des Trainers zu interpretieren und die richtigen Reaktionen zu zeigen. Die Entscheidungsmacht der Spieler ist im gleichen Maße gesunken. Es sei denn, sie heißen Messi oder Neymar, die in gewisser Weise besitzrechtliche Ansprüche auf ihre Mannschaften erheben.

Spielt hierbei das fehlende Publikum auch eine Rolle?

Absolut. Zum einen, weil man die Trainer noch mehr hört. Die Spieler nehmen das jetzt wahr. Mauricio Pochettino (bis Ende 2019 Trainer bei Tottenham Hotspur, Anm. d. Red.) sagte mir einmal, dass es in England immer eine halbe Stunde gibt, wenn das Spiel nicht ihm, sondern dem Publikum gehört. Wenn er nichts machen kann. Und das ist auch so, denn die Impulse von den Tribünen gehen direkt ins zentrale Nervensystem der Fußballer über und treiben sie unter Umständen zu unbesonnenen Handlungen. Und das macht den Fußball attraktiver.

Das Turnier von Lissabon wird auch deshalb in Erinnerung bleiben, weil der FC Bayern mit seinem 8:2-Sieg aus dem Viertelfinale ein Erdbeben beim FC Barcelona ausgelöst hat.

Fürwahr. Man darf nicht vergessen, dass es in der Vergangenheit nicht nur eine, sondern zwei oder drei Warnungen gegeben hatte.

Aber das Spiel gegen die Bayern ging über die Niederlagen, etwa beim FC Liverpool, weit hinaus.

Beim 2:8 hatte man das Gefühl, dass kein Stein mehr auf dem anderen lag. Sogar Marc André ter Stegen (Torwart, Anm. d. Red.) hat noch nie so schlecht mit dem Fuß gespielt, und er war mit den Händen nie so ineffizient wie gegen die Bayern. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, um einen Neuaufbau anzugehen.

Champions League - Quarter Final - FC Barcelona v Bayern Munich

Star ohne Mannschaft: Lionel Messi in Lissabon.

(Foto: Rafael Marchante/Reuters)

Manch einer fragte sich, ob ein solch entwürdigendes Resultat mit acht Toren anständig war. Ihre Meinung?

Die Bayern sind eine dieser Mannschaften, die nicht mehr loslassen, wenn sie einmal zubeißen. In Spanien gab es viele 5:0-Siege, von Barcelona gegen Real Madrid und umgekehrt, und da hatte man immer den Eindruck, dass die siegende Mannschaft den Fuß vom Pedal nahm. Dass mit einer Zahl fünf auf der Anzeigetafel ein Grad an Demütigung erreicht war, der ausreichte, und dass alles, was darüber hinaus geht, eine Form von ungebührlicher Maßlosigkeit darstellen würde. Ich finde, dass der Respekt vor dem Opfer es gebietet, nicht nachzulassen. Und da hat der FC Bayern eine gewisse Tradition. Er hat einmal Real Madrid 9:1 geschlagen, das hat in Madrid niemand vergessen, obwohl es ein Freundschaftsspiel war. Und auch weil der damalige Trainer Vujadin Boskov sagte: "Lieber einmal 1:9 als neunmal 0:1."

Das 2:8 hat den FC Barcelona in eine tiefe Krise gestürzt.

Institutionell war der FC Barcelona schon vor Lissabon am Tiefpunkt. Der einzige in Europa, der sich glücklich schätzen konnte, dass es in den vergangenen Monaten kein Publikum gab, war Barcelonas Präsident Josep María Bartomeu. Diese Führung hätte den Druck des Publikums nicht überstanden. Ohne den Resonanzkasten des Stadions ist es einfacher zu überleben.

Was wird aus Lionel Messi?

Seine Ablösesumme ist bei 700 Millionen Euro festgeschrieben. Jenseits davon glaube ich nicht, dass Messi den FC Barcelona mit dem Stigma eines 2:8 verlassen kann. Nicht, wenn man sich vor Augen führt, was er historisch für den Klub bedeutet hat.

Ist er sich dessen bewusst? Er hat gerade dem neuen Trainer Ronald Koeman mitgeteilt, dass er Zweifel hat, ob er weitermachen will.

Wenn man sauer ist, fällt es einem schwerer nachzudenken. Mir persönlich fällt es schwer, Messi im Trikot eines anderen Klubs zu sehen. Da fiele es mir schon leichter, ihn daheim sitzen zu sehen...

Es gibt angeblich Stimmen in der Führung von Barça, die einem Abschied Messis nicht negativ gegenüberstehen würden.

Messi darf sich die Frage stellen, ob er bleiben will. Sie ist legitim. Zumal er immer wieder gewarnt hat, dass das derzeitige Niveau von Barça nicht reichen würde. Aber der FC Barcelona darf sich nicht fragen, ob er auf Messi verzichten kann. Zumal die Bringschuld beim Klub liegt. Wenn man sich fragt, wer wem mehr gegeben hat, ob der FC Barcelona Messi oder umgekehrt Messi dem FC Barcelona, ist die Antwort eindeutig. Messi war der beste Vorlagengeber der letzten Saison, der beste Torschütze, er hat seinen Beitrag geleistet. Umgekehrt kann man das von Barcelona nicht sagen. Im Gegenteil. Je älter er wird, desto weniger Rückhalt bekommt er vom Klub.

Er ist jetzt 33 Jahre alt. Glauben Sie, dass er Lust hat, einen Neuanfang anzuführen?

Es wirkt, als habe er es satt. Das ist nicht verwunderlich. Die ganze Last der Erwartungen, die aus den letzten fünfzehn, großartigen fünfzehn Jahren erwuchsen, lastet nur noch auf seinen Schultern. Das geht eine Zeitlang gut, aber nicht ewig. Messi kann viele Probleme lösen. Aber nicht alle.

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