Final-Verlierer Tottenham:Ein Wahnsinns-Spiel zu wenig

Tottenham Hotspur v Liverpool - UEFA Champions League  Final

Enttäuscht in Madrid: Harry Kane hat den Champions-League-Titel mit Tottenham verpasst.

(Foto: Getty Images)
  • Tottenham spielt eine große Saison in der Champions League - doch im Finale gegen Liverpool stößt das Team an seine Grenzen.
  • Ob die Mannschaft eine große Zukunft hat, liegt auch an Trainer Mauricio Pochettino.
  • Fraglich ist zudem, ob Besitzer Joe Lewis Geld für neue Spieler bereitstellt.

Von Martin Schneider, Madrid

Mauricio Pochettino hatte ja Recht, aber das nutzte ihm jetzt auch nichts mehr. Die Zahlen des Abends waren auf seiner Seite, und er kannte sie nach dem Spiel auch alle. Der Tottenham-Trainer konnte aus dem Kopf sagen, dass seine Mannschaft 64 Prozent Ballbesitz hatte, dass sie präziser in ihren Zuspielen war, dass sie doppelt so oft aufs Tor schoss wie Liverpool, achtmal die Spurs, nur viermal der Gegner. "Aber ich wäre dämlich, darüber zu sprechen", sagte Pochettino. "Im Finale geht es darum, zu gewinnen. Nicht darum, gut zu spielen."

Fußballerisch war dieses Spiel sowieso schwer zu greifen, ein Elfmeter nach 24 Sekunden würde auch jedes normale Fußballspiel verändern und ein Champions-League-Finale sowieso. Es hatte außerdem eine gewisse Tragik, dass gerade Moussa Sissoko den Arm vor dem Elfmeter auf so unerklärliche Weise von sich streckte, dass Sadio Mané ihn anschießen konnte. Sissoko, der im Rückspiel von Amsterdam den Glanz von Ajax mit seiner Power fast alleine eliminiert hatte.

Aber so entscheidend dieser Elfmeter war, er war am Ende nicht das größte Problem. Das größte Problem war, dass Tottenham nie so richtig in dieses Finale fand. Vielleicht lag es an Harry Kane, der zum ersten Mal seit April nach seiner Verletzung wieder in der Startelf stand und komplett abgemeldet wirkte. Auf Kanes Nominierung konzentrierte sich später die Kritik der Experten. Dass Kane nicht fit sein würde, sei absehbar gewesen, sagten sie. Pochettino verteidigte seine Entscheidung. "Harry hat nicht getroffen, aber die anderen Spieler haben auch nicht getroffen. Ich bereue nicht, ihn aufgestellt zu haben", sagte er.

Wird Besitzer Joe Lewis Geld für neue Spieler bereitstellen?

Vielleicht lag der mangelnde Spielfluss aber auch an der langen Pause - drei Wochen konnten sich beide Teams auf dieses Finale vorbereiten. In England spielen sie sonst alle drei Tage, so lange Unterbrechungen sind die Spieler nicht gewohnt. Zwar war die Pause für Liverpool genau so lang, aber vielleicht zog Jürgen Klopps Elf einen Vorteil daraus, dass sie auf diesem Niveau Finalerfahrung hatte. Tottenham hingegen stand zuletzt 1984 in einem europäischen Endspiel.

Womöglich war Tottenhams emotionale Energie auch einfach aufgebraucht. Der Sieg in der Nachspielzeit im Viertelfinale gegen Manchester City, der Sieg in der Nachspielzeit gegen Ajax im Halbfinale: Wahnsinnspiele. Am Ende war es ein Wahnsinnsspiel zu wenig, vielleicht ist so ein Adrenalinspeicher einfach irgendwann leer. Pochettino sagte später, was er immerhin mit allem Recht sagen konnte: dass er stolz auf sein Team sei. Er hatte es mit einer Elf ins Champions-League-Finale geschafft, in die vor der Saison exakt null Euro investiert wurden.

Eine Elf, die seit Jahr und Tag ohne spektakuläre Transfers auskommt, und das in einer Liga, in der sich manche Vereine mehr über Spektakeltransfers definieren als über den Fußball. Tottenham ist eine Trainer-Mannschaft, die bis auf Christian Eriksen, Harry Kane und vielleicht Dele Alli keine echten Weltklasse-Spieler hat, aber in der Lage ist, an guten Tagen mit einem klaren Plan jede Weltklasse-Mannschaft zu schlagen.

Die Spurs stehen erst an der Schwelle zu einem Spitzenteam

Pochettino arbeitet seit 2014 an der White Hart Lane. Als er 2015 das erste Mal gegen Klopps Liverpool spielte, setzte er bereits sieben Spieler ein, die vier Jahre später in diesem Champions-League-Finale stehen sollten (Kane, Alli, Rose, Vertonghen, Alderweireld, Eriksen, Torwart Lloris); zwei weitere (Trippier, Winks) saßen auf der Bank. Pochettino und diese Mannschaft: Das ist eine Einheit - und wer nun fragt, wie es mit Tottenham weitergeht, kann diese Frage nicht seriös beantworten, ohne die Frage nach Pochettinos Zukunft zu stellen. Er besitzt noch einen Vertrag bis 2023, aber zuletzt hatte er seine Zukunft demonstrativ offen gelassen. Dieser Trainer ist für jeden Spitzenklub in Europa interessant, und wer ihm genau zuhörte, konnte schon heraushören, dass er jetzt, da das neue Stadion gebaut ist, gerne ein paar Euro für den ein oder anderen Spieler zur Verfügung gestellt bekäme. Vor allem, falls sich Eriksen Richtung Real Madrid verabschieden sollte. Aber das ist erst mal nur ein Gerücht.

Tatsächlich stehen die Spurs erst an der Schwelle zu einem Spitzenteam. Titel gab es zuletzt keine, dafür herausragende Platzierungen in der Premier League vor Chelsea, United, Arsenal. Das Jahr, in dem die Mannschaft eigentlich einen Titel hätte gewinnen können, war die Saison 2015/16 - doch zu diesem Zeitpunkt war das Team noch nicht reif genug. Die Wunder-Truppe Leicester City ergriff damals ihre Chance. Die Frage ist nun: Was will Tottenham? Manchester City und Liverpool mit Guardiola und Klopp scheinen außer Reichweite zu sein, aber Champions League spielen und weitere denkwürdige Spiele liefern - warum eigentlich nicht?

Viel wird davon abhängen, was Joe Lewis denkt. Lewis ist 82 Jahre alt, lebt auf den Bahamas und ist der Eigentümer des Klubs. Es heißt, er besitze ein Vermögen von 4,5 Milliarden Euro, aber wie so viele Superreiche ist er super-öffentlichkeitsscheu. Bisher war er jedenfalls nicht dafür bekannt, große Summen locker zu machen. Vielleicht ändert sich seine Meinung nach dem Champions-League-Finale.

Auch davon hängt ab, ob Pochettinos Wunsch in Erfüllung geht. "So was wie heute möchte man wieder erleben. Es ist das beste Spiel der Welt nach dem WM-Finale", sagte er. Das ist übrigens auch so eine Geschichte. Vor dem Finale wurde viel darüber gesprochen, wie gut ein Trainer sein kann, der ständig Titel verspielt, gemeint war Klopp. Pochettino hat noch keinen einzigen Titel als Trainer gewonnen. Aber niemand zweifelt daran, wie man seine Arbeit zu bewerten hat.

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