Tottenhams Lucas Moura:Der Supersupersuperheld

Lesezeit: 4 min

Ungläubig über die eigene Leistung: Lucas Moura von Tottenham Hotspur. (Foto: AP)
  • Tottenham Hotspur gewinnt 3:2 bei Ajax Amsterdam und zieht ins Champions-League-Finale ein.
  • Alle drei Treffer erzielt Lucas Moura - den letzten in der sechsten Minute der Nachspielzeit.
  • Hier geht es zu den Stimmen zum Halbfinale.

Von Benedikt Warmbrunn, Amsterdam

Um ihn herum schwirrten noch alle wie ein ergrünter Bienenschwarm, hier eine Umarmung, dort eine Umarmung, und natürlich viele Fotos, nicht dass noch einer diese Nacht vergisst. Er selbst hatte auch jedes Mitglied der Delegation aus London umarmt, der 16 Zentimeter größere Jan Vertonghen hatte es sogar geschafft, ihn dabei komplett verschwinden zu lassen, obwohl beide noch standen. Aber nun saß er von allen unbeachtet auf dem Rasen der Arena von Amsterdam, auf dem Rasen, auf dem er die verrückteste Fußballnacht seiner Karriere erlebt hatte. Bei ihm war nur noch der Ball, er versteckte ihn unter seinen Beinen.

Und weil ihn gerade niemand umarmen oder fotografieren wollte, lehnte er den Kopf an die eigene Schulter. Lucas Moura, der Mann, der Tottenham Hotspur ins Finale der Champions League geschossen hatte, war erschöpft.

Doch dieser Mittwochabend in Amsterdam war keiner für ruhige Momente, und so blieb auch Lucas Moura nicht lange alleine. Schon kam wieder ein Mitspieler herbei, das Handy gezückt, vielleicht jetzt noch ein Foto in Denkerpose? Lucas Moura nahm den Kopf von der eigenen Schulter. Dann machte er eine Denkerpose, ganz kurz nur. Dann war auch diese Inszenierung wieder vorbei.

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"Es ist unmöglich zu beschreiben, was ich gerade fühle"

Der Fußball bringt immer wieder Spieler hervor, die sich ihrer eigenen Heldenhaftigkeit gerne bewusst sind, die sich auf dem Platz hauptsächlich als Litfaßsäule der eigenen Großartigkeit sehen. Lucas Rodrigues Moura da Silva, 26 Jahre alt, aufgewachsen in São Paulo, war am Mittwochabend ein bescheidener Held. Er wirkte wie ein Mann, der selbst noch nicht fassen konnte, was da gerade mit ihm passiert war.

3:2 hatte Tottenham Hotspur das Rückspiel im Halbfinale der Champions League bei Ajax Amsterdam gewonnen, nach einem 0:1 im Hinspiel, und auch im Rückspiel lag das Team bereits mit zwei Treffern zurück. Alle drei Tore für die Spurs hatte Lucas Moura erzielt, das letzte davon in der sechsten Minute der Nachspielzeit. Er könnte sich nun Stolz gönnen, sogar ein bisschen Überschwang. Lucas Moura sagte: "Es ist unmöglich zu beschreiben, was ich gerade fühle." Vielleicht waren es genau die richtigen Worte, was sollte er auch sagen, nach so einem Abend.

Zum ersten Mal steht Tottenham nun im Finale der Champions League, als Außenseiter gegen den FC Liverpool. Aber am Mittwoch in Amsterdam hatten Lucas Moura und seine Mitspieler viel von dem gezeigt, was die Spurs auch am 1. Juni in Madrid gefährlich machen kann. Sie hatten sich von den Toren von Ajax nicht irritieren lassen, unersättlich hatten sie angegriffen. In der Halbzeit hatte Trainer Mauricio Pochettino sein Gespür für das Spiel demonstriert, mit einem Wechsel hatte er die Balance endgültig zugunsten seiner Mannschaft gedreht: Er brachte den Stürmer Fernando Llorente, der jeden Ball sicherte, der dadurch Ajax weiter zurückdrängte. Vor allem aber war es ein Erfolg des Willens. Weil da auf dem Rasen eine Mannschaft rannte und rannte und rannte, die einfach nicht daran glaubten wollte, dass das Ausscheiden schon beschlossen sein könnte, nicht bis zur letzten Sekunde der Nachspielzeit wollte sie es glauben.

"Das war kein taktischer Abend", sagte Mittelfeldspieler Christian Eriksen, "das war ein Abend der harten Arbeit." Er überlegte. Dann korrigierte er: "Ein Abend der harten Arbeit - und der von Lucas Moura." Es war der Abend des Mannes, der sich schon so oft gegen alle Prognosen durchgesetzt hatte, im Fußball, und auch im Leben.

Aufgewachsen ist Lucas Moura in einem Stadtteil von São Paulo, in dem Straßengangs das Sagen haben. Viele Freunde, hat er einmal erzählt, habe er verloren, weil sie ins Gefängnis gegangen sind, in den Untergrund, manche überlebten diese Jahre nicht. Lucas Moura aber schaffte den Sprung. Er verzichtete auf die Drogen, er verzichtete auf die Gewalt. Er glaubte an die Kraft des Fußballs. Schon damals, auch das hat er einmal erzählt, war er sich sicher, dass er eines Tages sein Geld als Profifußballer verdienen werde. Er sollte recht behalten.

Nach zwei Jahren als Profi beim FC São Paulo wechselte er 2013 zu Paris Saint-Germain, für 40 Millionen Euro, als eines der großen brasilianischen Talente seiner Generation. Er spielte gut, in seiner vierten kompletten Saison war er der zweitbeste Scorer, hinter Edinson Cavani. Dann, im Sommer 2017, verpflichtete PSG Neymar und Kylian Mbappé. Lucas Moura geriet schnell in Vergessenheit. Im Januar 2018 wechselte er zu Tottenham, für 28 Millionen Euro. Er brauchte ein paar Monate, um sich an den Fußball von Pochettino zu gewöhnen, in dieser Saison ist er immer wichtiger geworden, gerade im Halbfinale, in dem Kapitän Harry Kane verletzt fehlte; im Hinspiel war zudem Son Heung-min gesperrt. Also schauten auf einmal noch mehr Menschen auf Lucas Moura, auf den Spieler übrigens, der nach wie vor als aktuellster Zugang des Teams geführt wird; im Sommer 2018 holte Tottenham keinen Neuen. Und dieser Spieler setzte sich wieder gegen alle Prognosen durch, bei jedem Tor.

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Beim Anschlusstreffer leitete er einen Konter ein, er rannte dem Geschehen hinterher, holte es ein, auch, weil Dele Alli es zu kompliziert machen wollte. Lucas Moura schnappte sich den Ball, rannte zwischen Frenkie de Jong und Lasse Schöne hindurch, dann schob er den Ball ins Tor (55.). Beim Ausgleich behinderten sich Ajax-Torwart André Onana und Schöne nach einer starken Parade von Onana gegenseitig, wieder holte sich Lucas Moura den Ball, schlängelte sich durch ein Dickicht an Gegenspielern, vom Tor weg, drehte sich um, dann schoss er den Ball durch die Beine von de Jong ins Tor (59.). Vielleicht hätten sich ein paar Menschen an diesen Auftritt auch in ein paar Jahren erinnert, aber noch war es ein Spielstand, der Ajax reichte.

Dann liefen die letzten Sekunden.

Ein langer Ball an den Strafraum, Dele Alli passte weiter in den Lauf von Lucas Moura, und auch der zögerte nicht. Ein Schuss von der Strafraumkante, durch die Beine von Nicolás Tagliafico. Ein Schuss ins Tor. Ein Schuss ins Finale. "Sie sollten ihm eine Statue bauen", sagte Eriksen. "Alle meine Spieler sind Superhelden", sagte Pochettino, "aber Lucas Moura ist ein Supersupersuperheld."

Der Brasilianer hatte irgendwann doch ein paar Worte gefunden, um diesen Abend zu beschreiben. "Die größte Nacht meines Lebens" sei das gewesen. Es war ihm wohl zu überschwänglich. Lucas Moura, der Mann, der sich gegen alle Prognosen durchgesetzt hat, verbesserte sich selbst: Das mit dem Leben nahm er zurück. Aber die beste Nacht seiner Karriere sei es gewesen, das schon.

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