Süddeutsche Zeitung

Juventus gegen Lyon:In Ronaldo stecken noch ein paar Jahre

Das Selbstbewusstsein von Juve ist lädiert, da kann nur einer helfen, der mehr als genug davon hat. Beim Achtelfinal-Rückspiel gegen Lyon geht es auch im die Zukunft von Ronaldo in Italien.

Von Oliver Meiler, Rom

Als Juventus Turin vor zwei Jahren Cristiano Ronaldo zu sich holte, ins fußballerisch ergraute Italien, da war allen klar, dass der Portugiese vor allem in den wirklich entscheidenden Momenten strahlen sollte, auf den größten Bühnen, in der Champions League. Notfalls als Solist, in kolossaler Abkehr von Juves altem Credo, das immer vom Kollektiv ausging. Aber die Verzweiflung war nun mal groß.

Seit einem Vierteljahrhundert hat Juve die Königsklasse nicht mehr gewonnen, und das ist schmachvoll lange für das Königshaus des Calcio, fast eine Ewigkeit. Und nun fürchtet man vor dem Rückspiel im Achtelfinale einen Bühnensturz. Gegen Olympique Lyon, einen Nachbarn von jenseits der Alpen. Und was dann wäre, im Fall eines solchen Bühnensturzes, das mag sich im Moment lieber niemand ausmalen.

Lyon war in den Nullerjahren mal eine große Nummer, siebenmal in Serie französischer Meister. Jetzt aber darf es im Grunde kein Gegner sein für Juve, das gerade seinen neunten Meistertitel nacheinander gewonnen hat, la nona, wie es heißt, als wäre es Beethoven neunte Symphonie. Mit letzter Kraft, ausgelaugt, nicht mehr sie selbst: nach drei Niederlagen in den letzten vier Begegnungen. Das Selbstvertrauen ist grob lädiert. Da kann nur einer wie CR7 helfen, dem es daran nie gebricht.

Das Hinspiel in Lyon verlor Juventus vor Monaten 0:1, eine tückische Ausgangslage. Kassiert man ein Tor, was bei den jüngst erstaunlich porösen piemontesischen Verteidigungslinien kein Wunder wäre, dann bräuchte es schon eine ganz große Nacht des Tenors aus Funchal, des "Campione assoluto" (La Repubblica), des "Leitsterns" (Corriere della Sera). In den überdrehten Prädikaten der italienischen Zeitungen schwingt immer auch eine meditative, eine schier mantramäßige Note mit.

Alle Rekorde Ronaldos in den Zeitungen

Tagelang listeten die italienischen Zeitungen alle Rekorde Ronaldos aus der Champions League auf, selbstredend dessen Lieblingswettbewerb. Fünfmal hat er ihn gewonnen, einmal mit Manchester United, viermal mit Real Madrid, natürlich kann er nicht genug davon bekommen.

Hier eine kleine statistische Auswahl: 129 Tore hat Ronaldo erzielt in bisher 169 Einsätzen, 65 davon in der Knock-out-Phase, damit steht er auch weit vor seiner sportlichen Nemesis, Lionel Messi. 27 Mal gelangen Ronaldo in einem Spiel zwei Treffer, achtmal sogar deren drei.

Und noch dies: In den vergangenen neun Jahren schaffte er es immer mindestens bis ins Viertelfinale der Champions League. 2010, damals noch mit Real, war schon im Achtelfinale Schluss, der Gegner hieß: Lyon. Das Hinspiel in Lyon hatten die Franzosen gewonnen: 1:0. Parallelen?

Es ist also die Nacht der Nächte, alles wird verhandelt, wohl auch Ronaldos unmittelbare Zukunft in Italien.

Als er im Sommer 2018 in Turin landete, da begingen die Italiener die Ankunft wie eine Renaissance ihres Fußballs - euphorisch, ein bisschen ungläubig auch. Die Zeiten, da die Weltbesten nach Italien kamen, waren im Grunde schon lange vorbei, die Fans hatten sich arrangiert mit der zweiten Riege, den Mitsingern. CR7 war eigentlich viel zu groß für die Serie A, ein Special Act im Meer der Mittelmäßigkeit.

Für die Agnellis, denen der Verein seit 1923 gehört, hat sich die Verpflichtung schnell ausgezahlt. Dank Sponsoren und Merchandising sprang der Umsatz von Juventus im ersten Jahr gleich von 411 auf 494 Millionen Euro. Der globale Bekanntheitsgrad der Marke wuchs exponentiell, Cristiano Ronaldo hat 400 Millionen Follower in den sozialen Netzwerken.

Und er ist eine Rundum-Persönlichkeit, extrovertiert und polarisierend, ein Traum für die Vermarkter. Alles an ihm interessiert, über alles wird ständig berichtet: die Frauengeschichten und die Zweifel daran, das Styling der Haare, der Waschbrettbauch als plastischer Fleißnachweis, seine wohltätige Ader, sein unbescheidenes Ego, die dazu gehörenden teuren Autos, die Luxusyacht in Portofino, die ihm der Hersteller offenbar umsonst zur Verfügung stellt, weil ein Foto mit Ronaldo an Bord mehr wert ist als ein paar Dutzend Werbespots.

Wenn CR7 auf Instagram ein Produkt postet, ist das den Firmen 754 000 Euro wert. In seiner Karriere hat er schon mehr als eine Milliarde Euro verdient.

Er ist eine Welt für sich. Auf dem Platz wirkt es manchmal, als spiele er nur noch für sich allein, für die Fortschreibung der Legende, für die Trophäensammlung, fürs Museum auf Madeira. Die Anweisungen von Trainer Maurizio Sarri klingen bestenfalls wie fakultatives Gesäusel in seinen Ohren, er hält ihn für eine mittelmäßige Besetzung. Im vorletzten Spiel der Saison gegen Cagliari, als Juve schon Meister war, wollte Ronaldo unbedingt mit nach Sardinien fahren. Er rechnete sich aus, dass er noch Torschützenkönig werden könnte, und schoss aus allen Lagen aufs Tor, auch aus unmöglichen. Die Kameraden verzogen das Gesicht, er war frustriert, Juve verlor 0:2. Die Szene war entlarvend, ein bisschen peinlich, das Sinnbild für ein Missverständnis.

Geht er, wenn Juve ausscheidet?

Ronaldos Vertrag läuft noch bis Sommer 2022. Mit angeblich 30 Millionen Euro Nettogehalt ist der Vertrag sehr üppig bemessen, Ronaldo ist jetzt ja auch schon 35 Jahre alt. Doch das ist natürlich kein Alter für einen wie ihn, für einen, der wie besessen trainiert und jedes überflüssige Gramm Körperfett für eine unzulässige Konzession an die Normalität hält. Es stecken noch einige Jahre Toptop in ihm drin, davon ist er überzeugt, und wenn man so liest, was aus Frankreich gerade so über ihn kolportiert wird, dann will er diese Jahre auf keinen Fall verspielen.

"Gefangen, einsam und unverstanden", fühle sich Ronaldo in Turin, schreibt das Heft France Football, das in normalen Jahren den Goldenen Ball für den weltbesten Fußballer vergibt. Fünfmal hat es den Portugiesen schon damit bedacht, was natürlich mindestens einmal zu wenig ist: Messi hat sechs Bälle zu Hause. Trophäen, kollektive und individuelle, sind Ronaldos Motor, das hat er oft genug gesagt. Nun wurde er nicht mal zum besten Saisonspieler der Serie A gewählt, geehrt wurde sein argentinischer Sturmpartner Paulo Dybala.

Bei France Football kennen sie ihn gut, er gibt ihnen ab und zu Exklusivinterviews, es ist ein Geben und Nehmen. Offenbar ist es also so, dass CR7 nicht sehr glücklich ist in Turin. Turin sei nun mal nicht Madrid, soll er gesagt haben, die Stadt sei versteckt "hinter den Bergen". Die Serie A sei auch nicht die Premier League. Und Juve sei "ja vielleicht" ein großer Verein, die Elf aber habe nicht sein Format, nicht das Niveau des Besten. Ronaldo soll mit der Idee spielen, nach Paris zu wechseln, zu PSG, um dort einen Sturm zu formen mit Neymar, seinem brasilianischen Freund, und mit Kylian Mbappé, von dem er eine ganze Menge hält. "CR7 - Paris im Kopf", titelt France Football. Eine Träumerei?

Für die katarischen Besitzer von PSG wäre die Investition keine so große Sache, zumal jetzt nicht, da das Financial Fairplay der Uefa auch seine letzten Zähne verloren zu haben scheint. In Paris leben viele Portugiesen, der Prinzenpark bräuchte nicht extra erobert werden. Und die Aussicht, dann einmal Meister in den vier großen Ligen Europas geworden zu sein, wäre auch ein hübscher Antrieb. Das hat noch keiner geschafft.

Alles hängt an der Nacht des Tenors. Dafür hat man ihn geholt, schön soll er singen, alle hohen Töne treffen. Und das Tor, möglichst mehrmals.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4991512
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.08.2020/jbe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.