Es gibt bei Real Madrid immer Hoffnung, wenn es gilt, in einem europäischen Wettbewerb einen Rückstand aufzuholen, und das liegt an einem vor 30 Jahren verstorbenen Mythos namens Juanito. Halbfinalhinspiel des Uefa-Cups der Spielzeit 1984/85, Inter Mailand gegen Real Madrid, Endstand: 2:0. Ausweglos? Nicht für Juan Gómez González, wie Juanito bürgerlich hieß. "Noventa minuti en el Bernabéu son molto longos", raunte er einem Inter-Spieler in italienisch-spanischem Mischmasch zu: "90 Minuten im Bernabéu sind sehr lang", und siehe: Beim Rückspiel siegte Real Madrid tatsächlich 3:0.
Ganz so ausweglos wie damals ist die Lage für Real Madrid an diesem Mittwoch nicht. Aber ein bisschen vom Geiste Juanitos wurde in den vergangenen Tagen in Madrid doch beschworen. Denn Real Madrid muss im Estadio Santiago Bernabéu ein 0:1 gegen Paris Saint-Germain aufholen, um doch ins Viertelfinale der Champions League einzuziehen. Der Schlüssel zu der Partie? "In so einem Spiel spielen so viele Dinge eine Rolle", dozierte Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti am Dienstag, und die Unterstützung zähle in jedem Fall dazu.
Es ist fürwahr nicht von der Hand zu weisen, dass das Duell mit den Franzosen voller attraktiver Mikrogeschichten steckt; und es ist alles andere als absehbar, aus welcher sich letztlich der entscheidende Hauptstrang der Erzählung speisen wird. Den größten Charme aber versprüht - wie schon im Hinspiel - ein Name, der beiderseits der Pyrenäen elektrisiert: Kylian Mbappé, 23. Der Weltmeister von 2018 sorgte am Montag für einen Aufreger. Ein Spielkamerad trat ihm im Training auf den Spann, er musste die Übungseinheit abbrechen. Doch er flog mit. Und dürfte sich das Duell mit Real Madrid kaum entgehen lassen wollen.
Vor drei Wochen erzielte Mbappé in letzter Minute den Siegtreffer, und die Machart des Tores war die Bestätigung dafür, dass er tatsächlich die bestimmende Figur der kommenden Jahre des Weltfußballs werden dürfte. Real Madrids Präsident Florentino Pérez, das ist kein Geheimnis, will ihn um jeden Preis verpflichten. PSG will ihn um jeden Preis halten. Das bedeutet fürs Erste, dass sich Mbappé weder um seine finanziellen Zukunft sorgen muss, noch um die seiner Nachkommen, so er denn welche zeugt.
PSG zählt im Werben um Mbappé sogar auf die Unterstützung von Frankreichs Präsident
Beide zutiefst verfeindeten Klubs bieten ihm auf Jahre hinaus ein sattes Nettojahresgehalt im mittleren einstelligen Millionen-Euro-Bereich. Die signing fee, die Mbappé von Real Madrid geboten wird, soll mittlerweile dem Betrag entsprechen, den Spaniens Rekordmeister im Winter bei PSG als Ablöseofferte hinterlegte. Das waren 180 Millionen Euro. PSG würde diesen Betrag matchen, wie es in Dating-Apps und in der Geschäftswelt heißt. Bei den immateriellen Werten liegt Real Madrid wohl hinter PSG. Die Spanier umgarnen Mbappé mit der Aussicht, zur Primadonna einer Bühne zu werden, die gerade rundumerneuert wird: das neue Bernabéu-Stadion, das am Mittwoch wegen der laufenden, milliardenschweren Bauarbeiten "nur" 60 000 Zuschauer beherbergen kann.
PSG wiederum zählt mittlerweile auch auf die Unterstützung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Und der winkt heftig mit der Tricolore. Er lockt Mbappé mit der Aussicht darauf, das unverwechselbare Gesicht der Olympischen Spiele von 2024 zu werden. Sie sollen in Paris stattfinden.
Aber vielleicht wird Mbappé gar nicht die entscheidende Figur des Rückspiels? Vielleicht wird es Torwart Keylor Navas, der einst mit Real Madrid unter anderem drei Champions-League-Titel holte (2016, 2017, 2018) und sich bei PSG mit Gianluigi Donnarumma abwechselt? Oder Lionel Messi, der seit der Saison 2017/18 nicht mehr gegen Real Madrid getroffen hat? Oder doch der frühere Dortmunder Achraf Hakimi, der aus der Real-Jugend stammt und im Sommer nur deshalb nicht nach Madrid zurückkehrte, weil er als zu offensiv erachtet wurde? Vielleicht wird es aber auch Neymar Jr., der nach einer längeren Verletzung noch nicht wieder auf der Höhe seiner Fähigkeiten ist, aber im Hinspiel die entscheidende Szene vor dem Tor hatte.
Wer es keinesfalls wird: Sergio Ramos, die alte Real-Legende, die seit seinem Wechsel zu PSG an Verletzungen laboriert und wohl am Ende der Saison ausgemustert werden wird. Vielleicht fällt die Rolle also PSG-Stürmer Ángel Di María zu, der einst ebenfalls das weiße Trikot von Real getragen hat.
"Wenn Kroos nur bei 95 Prozent ist, wird er nicht spielen", sagt Madrids Trainer Ancelotti
Auf der anderen Seite hat Real Madrid sich nach dem schlimmen Auftritt von Paris gefangen. "Wir haben unter dem hohen Pressing von PSG gelitten", sagte Ancelotti. Nun sei man physisch besser drauf. In den letzten drei Spielen gab es drei Siege - gegen Alavés (3:0), Rayo Vallecano (1:0) und Real Sociedad San Sebastián (4:1) -, in denen Real höher postiert war als noch in Paris. Aber: Real Madrid hat zwei zentrale Ausfälle zu verkraften. Linksverteidiger Mendy und der defensive Mittelfeldspieler Casemiro sind gesperrt. Und Casemiro ist der vielleicht wichtigste Akteur im Konstrukt der Madrilenen.
Mit seinem Stellungsspiel und seiner Antizipationsfähigkeit schafft er die Grundlage dafür, dass sich die Offensivkünstler Madrids entfalten können. Bei defensiven Umschaltsituationen ist er unverzichtbar, weil er einen breiten Raum abdeckt, Passlinien unterbricht, bis die Kameraden nachgerückt sind. Der ehemalige deutsche Nationalspieler Toni Kroos wird wohl rechtzeitig fit, die Entscheidung, ob er auflaufen wird, fällt allerdings erst am Mittwoch. "Wenn er bei 100 Prozent ist, spielt er. Wenn er nur bei 95 Prozent ist, spielt er nicht", sagte Ancelotti.
Neben Kroos sind auch der Uruguayer Fede Valverde und Eduardo Camavinga Kandidaten fürs Mittelfeld. Camavinga leitete am Samstag gegen die Real Sociedad San Sebastián das ein, wovon die Madrilenen für Mittwochabend träumen; eine "Remontada", eine Aufholjagd wie sie Camavinga bereits einmal erlebt hat - am fünften Spieltag der spanischen Liga, gegen Valencia. Camavinga feierte da wie einst Juanito beim 4:0 gegen Borussia Mönchengladbach aus dem April 1986, durch das ein 1:5 übertroffen wurde. Juanito hüpfte bei seiner Auswechslung wie von Sinnen und boxte dabei mit der Faust in die Luft. In Madrid hätten sie nichts dagegen, wenn sich das Bild am Mittwoch nach 90 langen Minuten im Bernabéu wiederholt.