Real Madrid in der Champions League:Fest im Glauben an die Bibel und Nadal

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Es gibt immer eine zweite Chance – zumindest in der Champions League: Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti hofft auf die Rückspiel-Wende.
Es gibt immer eine zweite Chance – zumindest in der Champions League: Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti hofft auf die Rückspiel-Wende. (Foto: Dylan Martinez/Reuters)

Drei Tore muss Real Madrid gegen Arsenal im Viertelfinale der Champions League aufholen. Aussichtslos? Vorbilder für derlei Befreiungsschläge findet der Rekordsieger in der Klubhistorie – und im Tennis.

Von Javier Cáceres, Dortmund

Das Unglaublichste an Wundern ist, dass sie geschehen. Das soll der britische Schriftsteller G. K. Chesterton einmal behauptet haben. Lebte Chesterton noch – er verstarb 1936 in einer Ortschaft namens Beaconsfield –, so wäre er prädestiniert, in den Fußballredaktionen der Madrider Sporttageszeitungen anzuheuern.

Mit 0:3 hatte Real Madrid am Dienstag vergangener Woche beim FC Arsenal in London verloren. Die Trauer darüber währte keine 24 Stunden.

Dann wurden angegilbte Fotos aus den Archiven gekramt und auf die Titelseiten gehoben, epische Schilderungen alter Schlachten mit Vokabeln der Bibel vermählt, auf dass ein Wunder geschehe. „Así remonta el Madrid“, titelte die Zeitung Marca am Dienstag, sinngemäß: „So holt Real Madrid auf.“ Drapiert wurde alles mit Fotos und Zitaten alter Helden wie Uli Stielike, der 1984, nach einer krachenden Hinspiel-Niederlage, sagte, dass er sich nicht mal umziehen würde, wenn er nicht an die Wende glaubte. „Dies ist ein Klub, der der Logik zuwiderhandelt“ und damit unter seinen Anhängern einen „etwas törichten Glauben“ begründet, sagte der argentinische Fußballweise Jorge Valdano, der als aktiver Profi bei Real an magischen, heute mythisch verklärten Nächten mitwirkte, der Zeitung As.

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Man muss es vielleicht einmal erlebt haben – zuletzt zum Beispiel gegen Paris Saint-Germain, den FC Chelsea oder Manchester City –, um zu verstehen, dass sie in Madrid das Unvorstellbare tatsächlich unter Empirie verbuchen. Der Chefkommentator der Marca schrieb einen Satz, der die Frage aufwarf, warum sich Real Madrid vergangene Woche bei den „Gunners“ nicht gleich mit 0:4 aus dem Stadion schießen ließ: „Wir würden lügen, würden wir nicht sagen, dass Real Madrid von dieser Situation begeistert ist.“

Zumindest zählt der 15-malige Rekordsieger und Champions-League-Titelverteidiger aus Madrid zu der wirklich kleinen Gruppe von Klubs, die nach einem Hinspielresultat, das einem Ad-hoc-Urteil gleicht, nicht fragen, wie die Vollstreckung wohl vonstattengehen wird. Sondern sich fragen, wie sie sich dem Urteil noch entziehen können. Der Statistikanbieter Opta errechnete, dass die Chancen Reals, das Halbfinale zu erreichen, bei vier Prozent liegen. Doch war es nicht der ehemalige Real-Madrid-Trainer Leo Beenhakker, der das Copyright auf das (später von Karl-Heinz Rummenigge in anderem Zusammenhang weitergetragene) Bonmot hatte, wonach Fußball keine Mathematik sei?

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Jetzt starb Beenhakker, und sein Zitat wurde just vor dem Spiel gegen Arsenal in gefühlvollen Nachrufen verbreitet, quasi als Antithese zu Optas Zahlenwerk. Denn bei vier Prozent ist das Glas in Madrid nicht so gut wie leer, sondern halb voll. Die Zeitung As brachte ihren Lesern nahe, dass Rafael Nadal, ehedem Tennisprofi und möglicher Real-Präsident der Zukunft, im Finale der Australian Open von 2022 mit 2:6, 6:7, 2:3 und drei Breakbällen gegen den Russen Daniil Medwedew zurücklag, also nur noch eine vierprozentige Siegchance hatte – und nach fünf Stunden und 24 Minuten siegte.

Weitere Argumente gefällig? Real Madrid hat mehrmals im Bernabéu-Stadion Rückstände mit drei oder vier Toren aufgeholt: gegen Derby County in der Saison 1974/75 (5:1 n.V. nach 1:4 im Hinspiel), gegen RSC Anderlecht in der Saison 1984/85 (6:1 nach 0:3) und ein Jahr darauf gegen Borussia Mönchengladbach (4:0 nach 1:5, Real kam wegen der Auswärtstorregel weiter). Dass bei Real der sprichwörtliche „zwölfte Mann“ nicht die Tribünen bevölkert, sondern mitunter auf dem Platz eine Pfeife im Mund hat, wird eher selten thematisiert.

Das Wunder von Bernabéu: Real mit dem Torschützen Jorge Valdano dreht im Dezember 1985 gegen Borussia Mönchengladbach das Duell zu seinen Gunsten: 5:1 nach 0:4.
Das Wunder von Bernabéu: Real mit dem Torschützen Jorge Valdano dreht im Dezember 1985 gegen Borussia Mönchengladbach das Duell zu seinen Gunsten: 5:1 nach 0:4. (Foto: Sportfotodienst/Imago)

Andererseits: Real Madrid ist auch dreimal beim Versuch gescheitert, drei Tore wettzumachen. Zudem hat Arsenal letztmals vor anderthalb Jahren drei Gegentore kassiert (und das Spiel bei Luton Town noch mit 4:3 gewonnen). Die Vernunft besagt tatsächlich, dass Real Madrid gegen Arsenal chancenlos ist, die Vorträge des Rekordsiegers waren in letzter Zeit alles andere als überzeugend. „Sie haben in jeder Hinsicht mehr gearbeitet als wir“, sagte Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti nach dem Hinspiel gegen Arsenal und verwies auf Statistiken. Schwerer wiegt, dass sich in der Mannschaft Gräben auftun, weil die Arbeit auf den niederen Chargen lastet und im Grunde kaum ein offensiver Angriffszug zu beobachten war, in dem man von einem choralen Auftritt der Starstürmer hätte reden können.

Rodrygo, Jude Bellingham, Vinícius Jr. und Kylian Mbappé versuchten als Solisten, zum Torerfolg zu kommen – vergeblich. Statt einer Halbinsel ist die Offensive Real Madrids ein Archipel unverbundener Inseln. Überdies scheint Mbappé nervös zu sein: Am Sonntag wurde er beim Ligaspiel bei Deportivo Alavés für ein brutales Foul mit Rot vom Platz gestellt. Der beste Spieler Madrids war – trotz dreier Gegentreffer – Torwart Thibaut Courtois. Danach forderte er seine Kameraden auf zu glauben. „Wenn wir zwei Tore schießen, folgt das dritte von allein“, sagte er.

Trainer Ancelotti käme das gelegen, wobei es bei ihm eher um die Frage eines ehrenhaften Abtritts geht. Er weiß, dass Vereinsboss Florentino Pérez im Namensverzeichnis seines Telefons längst unter den Einträgen „mit X“ nachgeschaut hat, wie die Zeitung Marca in Anspielung auf Trainer Xabi Alonso schrieb. Der Leverkusener Coach gilt seit Monaten als einsamer Favorit auf die Nachfolge des seit 2021 amtierenden Italieners. „Wir werden bis zum letzten Ball kämpfen“, sagte Ancelotti.

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