Julian Nagelsmann ist noch immer ein junger Mann; im Juli wurde der Trainer von RB Leipzig 32 Jahre alt. Insofern war die Erkenntnis, dass er auch in engen Röhrenhosen noch über eine gute Grundschnelligkeit verfügt, nicht gar so überraschend. Und doch war es bemerkenswert, wie schnell er noch laufen konnte, am Ende eines langen Arbeitstages, und wie er dann jubelte, nachdem Leipzigs Emil Forsberg in der 96. Minute ein zwischenzeitliches 0:2 gegen den Lissabonner Sportverein Benfica in ein 2:2 verwandelt hatte. Oder, wie Nagelsmann später sagen sollte: einen Moment erschuf, der "für die intrinsische Motivation" seiner Mannschaft wichtig werden dürfte.
Das Konzept der intrinsischen Motivation stammt aus der Lernpsychologie, und es bezieht sich auf all die Dinge, die man aus inneren, aus einem selbst heraus entstehenden Beweggründen tut. Weil es Freude bereitet und sinnvoll ist also, und nicht etwa, um eine Belohnung zu erlangen oder eine Bestrafung zu umgehen. Nun waren die Leipziger mit dem Ausgleich nicht einem veritablen Drama entgangen; im abschließenden Gruppenspiel in Lyon hätten sie die Qualifikation für die K.-o.-Runde immer noch perfekt machen können. Nun werden sie dort am 10. Dezember um den Gruppensieg spielen.
Und doch erinnerte Nagelsmanns ekstatischer Spurt an der Außenlinie an den Sprint seines katalanischen Trainerkollegen Josep Guardiola an der Stamford Bridge (als Andrés Iniesta in der letzten Sekunde traf und dem FC Barcelona gegen Chelsea den Einzug ins Finale von 2009 sicherstellte). Forsbergs Treffer stellte den erstmaligen, im Lichte des Spielverlaufs eher unwahrscheinlichen und von den Bossen des Marketingkonstrukts RB Leipzig sogleich als "historisch" besungenen Einzug ins Achtelfinale der Champions League sicher. "Wir sollten jetzt einen Moment innehalten und uns freuen", sagte Geschäftsführer Oliver Mintzlaff.
Patrik Schick spürte den Hauch eines Handschlags im Gesicht
Noch ehe Taschentücher gereicht werden konnten, erinnerte Mintzlaff daran, was der eigentliche Sinn der Unternehmung RB ist. Während Mittelfeldspieler Konrad Laimer sagte, dass man "als Fußballer dafür lebt, sich mit den Großen zu messen", und Forsberg sich danach sehnte, an der Anfield Road in Liverpool oder im Camp Nou aufzulaufen ("im Bernabéu war ich schon"), wirkte Mintzlaff, als würde er den weiteren Fortgang des Wettbewerbs in (Werbe-)Sendezeiten und Prämienausschüttungen umrechnen: "Der Fan will gerne gegen Barcelona spielen. Aber wir wollen etwas Machbares", sagte er.
In die Kategorie "machbar" hatte man auch Benfica einsortiert, mag der Klub auch für einen 37-maligen portugiesischen Meister und zweifachen europäischen Champion sowie für Namen wie den legendären Eusébio stehen. Und doch fühlte sich das Remis für die Leipziger an wie ein Triumph. Benfica hatte, wie Nagelsmann sagte, den Omnibus vor dem Tor geparkt und zwei haarsträubende Defensivfehler der Leipziger zu Toren durch Pizzi (20.) und Carlos Vinícius (59.) genutzt. Leipzig war überlegen, doch mal fehlte die Länge einer Fußspitze, um an den Ball zu kommen; dann wurde ein Ball auf der Linie geblockt, und am Ende schien es, als würde das größte Erstaunen hervorrufen, wie weit doch Timo Werner am gegnerischen Tor vorbeizielen konnte: Einmal schaffte es ein Schuss des Nationalstürmers ziemlich genau bis zur Eckfahne.
Dass Leipzig neben zahlreichen, großzügig vergebenen Torchancen darüber klagen hätte können, dass der Schiedsrichter Gil Manzano in der ersten Halbzeit einen Elfmeter nicht gab, war vergessen, als der eingewechselte Stürmer Patrik Schick in der 90. Minute den Hauch eines Handschlags im Gesicht verspürte - und Gil Manzano doch noch auf den Elfmeterpunkt zeigte. Werner verzichtete auf die Ausführung; er gab zu bedenken, dass der in Stuttgart geborene Benfica-Torwart Odisseas Vlachodimos ihn gut kenne, sie hatten zusammen beim VfB Stuttgart gespielt. Also verwandelte Forsberg. Weil beide Torhüter wegen Verletzungen lange behandelt werden mussten, gab es fast zehn Minuten Nachspielzeit, und dann kam Forsberg per Kopf zum 2:2, nach einer vorzüglichen Werner-Flanke. "Das war ein ganz besonderes Tor", sagte der Schwede, der zu jenen Profis zählt, die in Leipzig anheuerten, als der Klub unterklassig war.
Forsbergs Name ist daher auch mit besonderen Augenblicken verbunden: mit dem 2:0 gegen den Karlsruher SC, das er 2016 mit einem Tor ebnete und das den Aufstieg in die Bundesliga bedeutete. Oder mit dem Treffer gegen AS Monaco im Jahr 2017, dem ersten Champions-League-Tor der Konzerngeschichte. "Den Verein nun ins Achtelfinale zu schicken, war ein schöner Moment", sagte Forsberg, als der Dienstag sich dem Ende zuneigte, und er klang nicht so, als wollte er es in dieser Saison dabei bewenden lassen.