Kylian Mbappé:Der Unterschiedsspieler aus der Vorstadt

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Kylian Mbappé (re.): Pariser Antreiber in der Champions League (Foto: David Ramos/Getty Images)

Kaum ist Kylian Mbappé genesen, ist Paris Saint-Germain in der Champions League konkurrenzfähig. Der 21-jährige Hochgeschwindigkeitsfußballer trägt auch im Halbfinale gegen Leipzig die Last des teuren Ensembles.

Von Oliver Meiler, Rom

Niemand spricht mehr vom Knöchel, dem rechten Knöchel der Nation, oder wenigstens vom Knöchel von Paris. Bei Kylian Mbappé geht eben alles etwas schneller, auch die Heilung eines lädierten Fußes. Als Loïc Perrin, der 35 Jahre alte Kapitän von Gegner AS Saint-Étienne, vor ein paar Wochen im französischen Pokalfinale das Jahrhunderttalent von Paris Saint-Germain so sehr abräumte, dass auch das Zuschauen am Fernsehen wehtat, da schien dieser sonderbare Sommer für die Pariser endgültig zu verdämmern. Champions League ohne Kylian Mbappé? Das war wie Champagner ohne Perlen. Und Perrin war untröstlich, weil er beinahe als Knöchelzertrümmerer in die Geschichte eingegangen wäre.

Und nun? Ist Mbappé, 21, wieder gänzlich genesen, so macht es jedenfalls den Anschein. Man brauchte ihm nur zuzuschauen im Viertelfinale gegen Atalanta Bergamo. Da wärmte er sich ab der Pause an der Seitenlinie auf, setzte immer wieder zu explosiven Sprints an, alles Gewicht auf dem rechten Fuß. Dann schaute er ständig zur Bank, zu Trainer Thomas Tuchel: "Wann bringst du mich endlich?"

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Dayot Upamecano organisiert die Leipziger Abwehr mit Schärfe, Persönlichkeit und Autorität. Schafft er das auch im Halbfinale, dürfte es für Paris St. Germain ungemütlich werden.

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Paris lag hinten, 0:1. Es drohte einmal mehr die vermaledeite Realität, der Spiegel, dass das, was in Frankreich für Titel und Trophäen en masse reicht, in Europa nicht genügt. In Doha, wo die Besitzer des Vereins sitzen, dachten sie wohl schon darüber nach, wie tief man in die Grundfesten eingreifen müsse. Eineinhalb Milliarden Euro hat der Emir in neun Jahren in die Belegschaft gepumpt. Ein kleines Stück Glorie sollte damit doch zu haben sein.

Der Rest ist bekannt. Die Einwechslungen des Jungen mit den Tempoläufen im Hochfrequenzmodus sowie von Eric Maxim Choupo-Moting, dem nachmaligen Helden des Spiels ohne neuen Vertrag - sie verliehen dem Spiel eine späte, dramatische Wende. So steht nun also PSG zum ersten Mal seit 1995 wieder im Halbfinale der Königsklasse, eine Ewigkeit später, und der rechte Knöchel von "Kyky", wie ihn auch Tuchel ruft, kann ab sofort nicht mehr als Alibi geltend gemacht werden. RB Leipzig, der Halbfinalgegner - davor darf sich Paris doch nicht fürchten.

Kylian Mbappé ist, was man in diesem Mannschaftssport einen Unterschiedsspieler nennt. Da stehen 22 auf dem Feld, und einer strahlt so sehr, dass zuweilen für alle anderen nur Schatten bleibt. Bei Mbappé ist es die natürliche Leichtigkeit beim schnellen Laufen, diese ansatzlose Durchmessung der Spielfläche. Gib ihm 30 Meter, und er nimmt so viel Geschwindigkeit auf, dass ihn niemand stoppt. Zumindest nicht auf legalem Weg.

Schneller mit Ball als die meisten Gegner ohne

Manchen verblüfften Beobachtern fielen schon Vergleiche aus der wilden Tierwelt ein, aber solche Bilder sind weder politisch korrekt, noch werden sie dem Phänomen gerecht. Man hat seine Laufgeschwindigkeit schon wissenschaftlich gemessen, die Spitze lag bei 38 Stundenkilometern. Usain Bolt lief nicht viel schneller, auch wenn der sein Tempo natürlich länger halten kann. Erstaunlich ist, dass Mbappé seinen Speed auch mit dem Ball am Fuß abruft; er läuft mit Ball schneller als die meisten Gegner ohne. Und wenn sich ihm jemand in den Weg stellt, trickst er sich durch, mit Beinschüssen, Lupfern und Powerdribblings. Es gibt Sammlungen davon auf Youtube, auch wacklige Aufnahmen bereits aus der Kindheit.

Tempo und Technik. Kein Stürmer der Gegenwart, so viel Absolutheit sei hier gewagt, greift die Tiefe aggressiver und versierter an als Kylian Mbappé. Bei PSG trägt er die 7, als wäre er ein klassischer Flügelspieler, die heilige Nummer 10 des Unterschiedsspielers ist für den Brasilianer Neymar reserviert. Im französischen Nationalteam ist Mbappé der Zehner, er ist schließlich Weltmeister. Doch auch bei PSG spielt er längst alle offensiven Rollen: Neuner, falscher Neuner, rechter Flügel, linker Flügel - wie es gerade passt.

Gegen Leipzig könnte ihn Tuchel in die Spitze stellen, flankiert von Neymar und Ángel Di María, der nach seiner Sperre zurück ist. Obschon: Im Eins-gegen-Eins im Korridor gegen die offensiven Außenverteidiger des Gegners wäre er wohl effizienter, gegen Atalanta war das ein Schlüssel zum Sieg. Die Sportzeitung L'Équipe meint gar, RB sei deshalb der ideale Gegner für Mbappé, ein Glücksfall. Möglich wäre auch eine noch offensivere Formation, ein 3-4-2-1 mit dem Argentinier Mauro Icardi ganz vorne und Neymar als Spielgestalter im zentralen Mittelfeld hinter Mbappé und Di María. Doch Icardi, im Winter von Inter geholt und gleich erfolgreich, ist seit der langen Pause wegen Corona in lamentabler Kondition. Am Ende stünde auch Choupo-Moting ganz gut, mindestens für eine Weile.

Mbappé macht auch aus einem anderen Grund den Unterschied bei PSG: Er verleiht diesem oft künstlich wirkenden Gebilde etwas Bodenhaftung und Identität. Mbappé wuchs in Bondy auf, einer so genannt schwierigen Pariser Banlieue, Département 93. Für die Chancen im Sport muss das kein Nachteil sein, aus Pariser Vorstädten waren schon viele Fußballer gekommen, die dann ansehnlich Karriere machten: Thierry Henry etwa oder Paul Pogba.

Mbappé ist der Sohn des früheren Fußballers und Nachwuchstrainers Wilfried Mbappé Lottin, regionale Kreisklasse, ursprünglich aus Kamerun, und von Fayza Lamari, einst Handballerin von AS Bondy, erste Liga, sie kommt aus Algerien. Mit 14 beschloss die Familie, dass es für den begabten Sprössling das Beste wäre, wenn er in der gelobten Nachwuchsakademie des AS Monaco groß würde - im Fürstentum der Reichen und der Pensionierten unten an der Côte d'Azur, weit weg von den Versuchungen der großen Stadt. Nike nahm ihn schon mit 14 unter Vertrag.

Mit knapp 17 gab er seinen Einstand in der Ligue 1, bald wollte ihn Real nach Madrid holen - für 180 Millionen Euro. Mbappé aber träumte davon, in Paris zu spielen, im Prinzenpark, vor seinen Freunden. Und die Katarer erkannten wohl, dass sie mit einer Verpflichtung des Jungen aus Bondy nur gewinnen konnten. Sehr sympathisch lief die Operation aber nicht ab, das weiß man mittlerweile auch aus geleakten Dokumenten. Um Steuern zu sparen und das Financial Fairplay des Europaverbands Uefa zu düpieren, einigte man sich mit Monaco auf einen fragwürdigen Transfer mit vielen Ungereimtheiten. Bekannt wurde auch, dass der "Clan Mbappé", wie die Familie und ihre Berater nun genannt wurden, einige Ansprüche stellte, die nicht so gut zur schönen Geschichte des heimkehrenden Vorstadtbuben passten.

Unter anderem war da die Forderung nach 50 Stunden Flug im Privatjet pro Jahr und eine Sonderprämie, sollte PSG wegen der Verletzung der Budgetregeln aus der Champions League ausgeschlossen werden. Und für den Fall, dass er den Ballon d'Or des weltbesten Fußballers gewänne, würde er mindestens gleich viel verdienen wollen wie der Topverdiener im Verein - wie Neymar, und der soll 30 Millionen Euro kassieren. Alle drei Wünsche wurden ausgeschlagen. Mbappé verdient mittlerweile trotzdem so viel wie kein anderer französischer Berufssportler, mit Sponsorengeld sind es etwa 30 Millionen Euro.

Er ist ja auch unverzichtbar, sein Verkauf ins Ausland, so unvermeidbar er irgendwann wohl sein wird, ist ein Tabu. In Bondy träumen die Kinder von ihm. Das Magazin Time hob Kylian Mbappé sogar auf sein Cover, er sei ein Leader der nächsten Generation, was man darunter auch immer verstehen mag. Zunächst reicht es Paris schon, wenn der Knöchel des jungen Mannes die Last des Vereins wieder trägt - schnell, über rechts oder links, durch die Mitte, egal.

© SZ vom 18.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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