Champions League:Nach eigenem Pegel

Champions League - Group Stage - Group C - Liverpool v Napoli

Der Wegbegleiter in Liverpool: Jürgen Klopp und Stürmer Mohamed Salah an der Anfield Road.

(Foto: Carl Recine/Action Images/Reuters)

Seit 19 Heimspielen ist der FC Liverpool im Europapokal nun unbesiegt: Trainer Jürgen Klopp versteht es auch beim 1:0 gegen den SSC Neapel brillant, die Stimmung in Anfield zu nutzen.

Von Sven Haist, Liverpool

Immer wieder hielt sich Jürgen Klopp seine Hand ans Ohr. Ihm konnte der Lärm nicht laut genug sein. Mit den Armen versuchte er, die Fans zu animieren, den Pegel bis zum Anschlag zu treiben. Am wohlsten fühlt er sich ja, wenn alle an der Anfield Road hörbar außer sich sind. An das Gebrüll der Leute haben sich Jürgen Klopp und seine Spieler dermaßen gewöhnt, dass sie in anderen Stadien bisweilen ihr Charisma verlieren.

In der Vorsaison diente die heimische Kulisse dem FC Liverpool oft als Inspiration, um gegen stärkere Gegner über sich hinauszuwachsen. Heute muss die Mannschaft nicht mehr über sich hinauswachsen: weil sie schlicht zu den besten gehört. Statt aus Not bittet Klopp die Zuschauer jetzt aus Lust um Hilfe. Er weiß, dass die Fans darin aufgehen, in seinen Matchplan eingebunden zu sein - und nachher für ihre Leistung vergütet zu werden.

Zum Dank formte Klopp, 51, diesmal seine Hände zu einem Herz. Für jeden sichtbar, vor der Haupttribüne. Der Gruß richtete sich an alle, die - anders ließ sich das am Dienstag nicht sagen - mit Herz dabei waren. Ohne das Zusammenspiel zwischen seiner Mannschaft und den Fans hätte das rasante Aufeinandertreffen mit dem SSC Neapel nur halb so viel Freude gemacht. "Ich möchte mich bei Anfield bedanken. Unglaublich, was die Leute geleistet haben", sagte Klopp: "Die Atmosphäre war speziell, ich könnte nicht stolzer sein."

"Ich möchte mich bei Anfield bedanken. Unglaublich, was die Leute geleistet haben" - Jürgen Klopp über die Anhänger im Stadion

Sogar im Medienraum, kurz bevor die Pressekonferenz begann, gab der deutsche Trainer aus Erleichterung einen Freudenschrei von sich: "YYYEEESSSSSSSSS." Sein Team hatte die Nervenprobe bestanden und getan, was es tun musste: ein Tor schießen, keines kassieren. Es hätte ein zweites, drittes oder viertes Tor erzielen können bei insgesamt 22 Torschüssen. Allerdings war ein Spektakel nicht gefragt. Das ist die Nonchalance, mit der Liverpool in dieser Saison seine Pflichten abarbeitet.

Mit dem knappsten aller Ergebnisse, die fürs Weiterkommen gereicht hätten, hat sich Liverpool beim 1:0 über Neapel nach drei Auswärtsniederlagen auf den letzten Drücker ins Achtelfinale der Champions League gerettet. Durch das parallele 4:1 des Gruppensiegers Paris Saint-Germain (elf Punkte) bei Roter Stern Belgrad (vier) kam es zwischen Liverpool und Neapel (beide neun) bei identischem direkten Vergleich (je ein 1:0) sowie derselben Differenz im Torverhältnis (+2) letztlich auf die Anzahl der mehr geschossenen Tore an (neun für Liverpool, sieben für Neapel). Neapel muss als Gruppendritter deshalb in der Europa League weiterspielen.

Das Aus nahm Carlo Ancelotti - unter den Trainern mit drei Titeln neben Zinédine Zidane der Rekordgewinner der Champions League - in der ihm eigenen Gemütsruhe entgegen, mit der er seine Mannschaft zuvor auch durch den Lautstärkeorkan zu führen versucht hatte: "Wir müssen das Resultat akzeptieren. Wir haben bis zum Schluss um die Qualifikation mitgekämpft, und das ist für uns wie ein Sieg." Ein Unentschieden oder eine knappe Niederlage bei eigenem Torerfolg hätten für den zweiten Rang gereicht, aber Neapel gelang halt dieses eine Tor nicht. Selbst dann nicht, als der Ball in der Nachspielzeit für den eingewechselten Arkadiusz Milik am Fünfmeterraum zum Einschuss bereitlag.

In dieser Szene schien Liverpool bestraft zu werden für den laxen Umgang mit den eigenen Chancen; doch Milik scheiterte am geistesgegenwärtig entgegenspringenden Alisson Becker. "Ein Vorwurf an Milik? Er hat den Ball gut gestoppt. Bei den Spielern gibt es nichts, was ich kritisieren kann", sagte Ancelotti. Für rund 60 Millionen Euro hatte Liverpool, der Vorjahresfinalist der Champions League, den brasilianischen Nationaltorwart im Sommer aus seinem Vertrag beim AS Rom herausgekauft - seine Rettungstat war nun sportlich ähnlich viel wert. "Das war lebenswichtig. Unglaublich, ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen", sagte Klopp: "Wenn ich gewusst hätte, dass er so gut ist, hätte ich auch den doppelten Preis bezahlt."

Um die Kontrolle über dieses Entscheidungsspiel der Vorrunde zu gewinnen, verausgabte sich Liverpool ein weiteres Mal. Mit dem Saisonbestwert von knapp 119 Kilometern liefen die Reds ihre Gegenspieler in Grund und Boden. Im Gegensatz zur vergangenen Spielzeit, in der Liverpool in der Champions League meistens versuchte, ein Chaos zu verursachen, in dem der Gegner dann die Übersicht verlieren sollte, basierte die Rennerei jedoch auf dem Plan, den Neapolitanern ihre Spielstärke zu nehmen. In der Schlussphase konnte James Milner, der Antreiber, keinen Meter mehr laufen, mit Krämpfen in beiden Beinen musste er sich auswechseln lassen. Zuvor hatte er mit seinem neunten Assist in der Königsklasse seit Beginn der Vorsaison (mehr als jeder andere Spieler) den Siegtreffer durch Mohamed Salah eingeleitet (34.). Neben Milner schleppte sich Trent Alexander-Arnold bei Liverpool mit einer Fußverletzung vom Platz, Joël Matip musste nach einem Zusammenprall mit einem Schlüsselbeinbruch ins Krankenhaus. Das eigene Tempo hatte Liverpool selbst zu schaffen gemacht. Das Zittern am Ende stand aber letztlich nur wieder stellvertretend für viele heiße Tänze, die Liverpool schon durchlebt hat im Europapokal.

Der Erfolg über Neapel macht klar, dass an der Anfield Road weiterhin nach eigenen Regeln gespielt wird. Seit 19 Heimspielen sind die Reds in internationalen Wettbewerben unbesiegt, zuletzt gab es im Oktober 2014 beim 0:3 gegen Real Madrid eine Niederlage. In den darauffolgenden Partien blitzten unter anderem Louis van Gaal (Manchester United), Pep Guardiola (Manchester City), Thomas Tuchel (Paris) und nun Carlo Ancelotti (Neapel) beim Versuch ab, in Anfield gegen den von Jürgen Klopp trainierten FC Liverpool zu gewinnen.

Bei der Auslosung am Montagmittag in Nyon wartet auf die Reds mit einem der Gruppenersten der nächste Topgegner. "Wir haben da nichts zu sagen. Wie könnte ich hier sitzen und um ein Team bitten?", sagte Klopp. Mit welchem Gegner auch immer der FC Liverpool es im Achtelfinale zu tun bekommt, Spaß machen wird es garantiert, Hand aufs Herz.

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