Champions League:Mit Zahnschmerzen nach Kiew

Das Halbfinal-Duell zwischen Liverpool und Rom wird zu einem Fest des Offensivfußballs. Mit Blick auf das Finale gegen Madrid bereiten die vielen Gegentore Jürgen Klopp und seinem Team Kopfzerbrechen.

Von Birgit Schönau, Rom

Diese Party wollte keiner zu früh verlassen. Nicht Liverpools Trainer Jürgen Klopp, der nach Niederlage und Finaleinzug jeden seiner Spieler ausgiebig herzte. Nicht die Spieler der Roma, die unter der Südkurve die Huldigungen des Publikums entgegennahmen und ihre Trikots in die Zuschauerreihen warfen. Und schon gar nicht das Publikum selbst, diese 62 000, die das Stadio Olimpico füllten wie zu dessen besten Zeiten und eine Kulisse aus Farben und Musik geschaffen hatten, wie sie in Europas Fußball ihresgleichen sucht.

Auch nach dem Schlusspfiff, als längst feststand, dass ihre Mannschaft trotz des 4:2-Sieges das Finale verpassen würde, hörten die Tifosi nicht auf zu feiern, zu singen, Fahnen zu schwingen. Und die 5000 Fans aus Liverpool grölten aus rauen Kehlen irgendwie mit, ganz verzaubert von dieser Riesenshow im Mutterland der Oper.

Egal ob Reds oder Romanisti, alle hatten ein Fest des Fußballs erlebt. Sieben Treffer für Liverpool, sechs für die Roma, noch nie sind in einem Halbfinal-Duell der Champions League derart viele Tore gefallen. Nach dem 5:2 im Hinspiel schienen Sadio Mané (9.) und Georginio Wijnaldum (26.) Liverpool auch in Rom frühzeitig auf die Siegesschiene zu bringen, obwohl James Milners Eigentor (15.) den Gastgebern zwischenzeitlich den Ausgleich schenkte. Zur Pause stand es 1:2, die Roma hätte also vier Tore gebraucht, um doch noch ins Finale von Kiew zu kommen.

Vier Tore in 45 Minuten, ein ausgewachsenes Megawunder nach dem ersten Mirakel im Viertelfinale gegen Barcelona (3:0) - eine Marienerscheinung hinter dem Kasten von Liverpool-Schlussmann Loris Karius wäre kaum spektakulärer gewesen. Tatsächlich folgten noch drei Roma-Tore, und die Madonna blieb unsichtbar. Der unverwüstliche Edin Dzeko eröffnete den Reigen (2:2/52.), der Belgier Radja Nainggolan, dessen Wurschtigkeit beim 0:1 zuvor Mané gewaltig zupass kam, setzte mit einem fantastischen Fernschuss noch einen drauf (86). Und Nainggolan verwandelte in der Nachspielzeit auch mit Wucht den Foulelfmeter zum 4:2-Endstand.

Champions League: AS Rom vs. Liverpool FC 4:2

Ein 2:4 kann so schön sein: Die Spieler des FC Liverpool feiern mit Trainer Jürgen Klopp (ganz rechts) in Rom den Einzug ins Finale der Champions League.

(Foto: Alessandro Garofalo/NaFoto/Silve/action press)

Das Wunder war ausgeblieben, aber ganz ohne Beweihräucherung hatten die Teams von Klopp und dessen Bruder im Geiste, Roma-Trainer Eusebio Di Francesco, eine rauschhafte 180-Minuten-Liturgie der Offensive, der Fantasie und der Spielfreude zelebriert. Bei so viel Leidenschaft und Hingabe konnte man zeitweise fast vergessen, dass diese Trainer besessene Tüftler und Strategen sind.

Aber da ist dieses erfrischend Unideologische, das beide eint, die Freude am schönen Spiel, der Mut zum Experiment. Dass beide Abwehrreihen keine so gute Figur machten, wurde Di Francesco zum Verhängnis. Klopp wird es vor dem Finale gegen die Routiniers von Real Madrid nun einiges Kopfzerbrechen bereiten, nachdem er in Rom schon gestanden hatte, die Gegentore genossen zu haben "wie Zahnschmerzen". Sehr freimütig gestand Liverpools Coach dann auch: "Wir brauchten Glück und wir hatten es."

Ja, grau ist alle Theorie und grün der Fußballdusel-Baum. Zum Glück gereichte Liverpool sicher auch, dass der slowenische Schiedsricher Damir Skomina der Roma einen klaren Handelfmeter versagte, weil er das Gefuchtel von Alexander-Arnold im Strafraum der Reds nicht bemerkt hatte. Auch Karius' Foul an Edin Dzeko hätte einen Strafstoß nach sich ziehen müssen, aber da hatte der Linienrichter schon Abseits gesehen, wo keines war.

Mo Salah war im Rückspiel so harmlos-verspielt wie zu Zeiten, als er selbst das AS-Trikot trug

Auf römischer Seite wurde pflichtschuldig Protest gegen die Spielleitung eingelegt und nach dem Videoschiedsrichter in der Champions League gerufen. Aber Roma-Kapitän Daniele De Rossi wollte sich damit nicht aufhalten: "Wir haben es im Hinspiel verschenkt", erkannte er, immerhin verlasse man die Bühne mit erhobenem Haupt. Die Roma blieb nicht nur zu Hause unbesiegt, sie kassierte auch die ersten Saisontore überhaupt im eigenen Stadion. Das 4:2 ist der würdige Abschluss einer Saison, in der im Jahr eins nach dem Weggang des ewigen Capitano Francesco Totti der FC Chelsea und zuletzt in grandioser Aufholjagd der FC Barcelona besiegt wurden. Erstmals seit 34 Jahren hatten die Römer den Einzug ins Halbfinale geschafft.

Sie waren die große Überraschung des Wettbewerbs: "Spieler, die international absolute Neulinge sind, vom Trainer gar nicht zu reden", sinnierte Di Francesco. Der 48-Jährige war im Vorjahr noch in Sassuolo unter Vertrag, einem Provinzklub in der Emilia Romagna im Besitz eines Klebstoff-Herstellers, quasi der Verein des italienischen Heinrich Haffenloher.

Diese Niederungen hat der Abruzzese DiFra hinter sich gelassen, er wird jetzt für alle möglichen FC Hollywoods gehandelt, will aber erst mal in Rom etwas gewinnen - es muss ja nicht gleich die Champions League sein. "Aber wenn wir alle drei Jahre im Halbfinale stünden statt alle 30 Jahre, wäre das auch nicht schlecht", findet sein Kapitän. 2017 hatte es Juventus Turin bis ins Finale geschafft (1:4 gegen Real), Italiens Fußball ist also keineswegs so scheintot, wie es die verpatzte WM-Teilnahme der Nationalelf vermuten lassen könnte. Soeben hat übrigens Carlo Ancelotti dem Verband einen Korb gegeben, angeblich, weil dem früheren FC-Bayern-Coach das gebotene Gehalt nicht reichte.

Champions League: Raus mit Applaus: AS-Roma-Kapitän Daniele De Rossi.

Raus mit Applaus: AS-Roma-Kapitän Daniele De Rossi.

(Foto: Isabella Bonotto/AFP)

Bemerkenswert, dass die Mannschaft des stillen, knorrigen Eusebio Di Francesco (benannt nach dem großen Portugiesen) ein ähnlich starkes Temperament entwickeln kann wie das Team des vulkanischen Klopp. Dem Deutschen gebührt indes der Primat der Attacke: 29 Saisontore von Sadio Mané, Mo Salah und Roberto Firmino machen dieses Offensivtrio zum erfolgreichsten in der Geschichte der Königsklasse, knapp vor den 28 Treffern von Cristiano Ronaldo, Gareth Bale und Karim Benzema vor vier Jahren. Salah kann sich nun im Finale direkt mit CR 7 vergleichen.

In Rom war der Ägypter, der den Ex-Kollegen von AS in Liverpool noch zwei Treffer verpasst hatte, so harmlos-verspielt wie zu den Zeiten, da er selbst das gelbrote Trikot mit der Wölfin trug. Spiritus loci, wahrscheinlich. Vor Jahresfrist hatte Salah Rom verlassen müssen, um jene Bilanzvorschriften der Uefa zu erfüllen, die hier tatsächlich ernst genommen werden.

Dzeko sollte zum Jahreswechsel das gleiche Los treffen, doch der Bosnier wehrte sich und blieb. Seine acht Treffer brachten dann Rom unter die letzten vier. Der Wunderläufer Salah aber erlebt bei Klopp die Explosion seines Talents: "Jeder will für ihn durchs Feuer gehen", sagt Keeper Karius über den Trainer. In Kiew wird der Feuerteufel Kloppo also neben dem aristokratisch-coolen Zinédine Zidane stehen und versuchen, es krachen zu lassen. Schon jetzt verspricht er: "Wir werden brennen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: