Champions League: Manchester United:Die Ergebnismaschine

Zum vierten Mal in nur fünf Jahren steht Manchester United im Halbfinale der Champions League. Die Ehrfurcht in Europa ist groß - doch zu Hause in England wird der Klub noch immer unterschätzt.

Raphael Honigstein

Es ging um furchtbares Leid, um den Tod und um das Leben danach. Die Passionsgeschichte spielte in München-Riem und Manchester, nicht in Jerusalem, doch der Sendetermin am Ostersonntag war von der BBC schon bewusst gewählt: "United" erzählte ja auch von einer übernatürlichen Wiederauferstehung, die eine neue Religion begründete.

Javier Hernandez, Wayne Rooney

Famos in Form: Javier Hernandez (rechts), verfolgt von Wayne Rooney.

(Foto: AP)

Der Fernsehfilm handelte vom Schicksal der "Busby Babes", jener legendären Manchester-United-Mannschaft, die beim Flugzeugunglück 1958 fast alle Stammspieler verlor. Knapp 14 Tage später wusste Assistenztrainer Jimmy Murphy bis kurz vor dem FA-Pokalspiel gegen Sheffield Wednesday nicht, wen er spielen lassen konnte; im Stadionheft wurden die Namen in der Startaufstellung blank gelassen. Die zum Großteil von Reservisten und Nachwuchsleuten besetzte Notelf siegte wundersam 3:0. "United will go on!", stand damals auf der Titelseite des Heftes.

Am Tag vor der Ausstrahlung gewann United 1:0 am Ostersamstag gegen Everton. Das Tor von Javier Hernández fiel spät (84.), aber 80.000 Zuschauer im Old Trafford und mehr als 300 Millionen Menschen, die sich laut Marktforschungsstudien weltweit als Fans der Red Devils begreifen, wussten, dass es fallen würde. Die Zeit schien für, nicht gegen den Tabellenführer zu laufen; ohne den Hauch von Nervosität spielten sie weiter, immer weiter, bis Hernández den unvermeidlichen Haken hinter die Angelegenheit setzte.

Der 19. Titel, Rekord auf der Insel, scheint bei sechs Punkten Vorsprung vor dem FC Chelsea nur noch eine Formalität zu sein. "Sie haben diese unglaubliche Belastbarkeit, diesen Wagemut", referierte Everton-Keeper Tim Howard, der selbst vier Jahre bei den Roten spielte. "Die Fans, die erfahrenen Spieler, das Management: Alle wissen, dass sie die Meisterschaft gewinnen werden - und sie sorgen schlichtweg dafür, dass es auch dazu kommt."

United will go on. Kein englisches Team ist so beseelt vom eigenen Mythos, auch weil ihn der 69-jährige Chef-Agitator tagtäglich vorbetet. Alex Ferguson liefert mit seinem unersättlichen Hunger nach Erfolgen höchstpersönlich den Strom für die Ergebnismaschine, schon seit 25 Jahren. Der Sohn eines Werftarbeiters aus Glasgow ist mittlerweile länger im Amt als Sir Matt Busby, der selbst im Münchner Crash schwer verletzt wurde, den Klub danach erneuerte und 1968 zum Gewinn des Europapokals führte. "Busby war lange da, für immer", sagt Sir Alex über die nie vergehende Aura seines Übervaters.

"Man hat kein recht auf Ruhe"

Wer nicht weiter geht, ist am Ende, das glaubt er fest: "Mein Vater ging an seinem 65.Geburtstag in Rente, ein Jahr später war er tot. Man hat kein recht auf Ruhe, im Gegenteil. Man muss aktiv und in Schuss bleiben." Oft hat man ihm und seinen Teams den Niedergang prognostiziert, doch beide kommen pünktlich mit dem Frühling stets zurück - dies ist die vierte Halbfinal-Teilnahme für ManUnited in der Champions League in fünf Jahren. Uniteds Konstanz ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass der Klub seit der Übernahme durch die Glazer-Familie zunehmend weniger Geld für neue Spieler ausgeben konnte.

Der famose Hernández (sieben Millionen Euro) und Neun-Millionen-Euro-Flop Bébé aus Portugal waren im Sommer die einzigen Zugänge; das Team bleibt frisch, weil Ferguson das Personal radikal rotiert. In 166 Spielen und mehr als drei Jahren schickte er keine unveränderte Elf auf den Platz. Stets werden - für Außenstehende nicht nachvollziehbar - Leistungen und Systeme überprüft, den jeweiligen Gegnern angepasst. In dieser Saison hätten einige Reporter vor lauter Verzweiflung die "voraussichtliche Aufstellung" in ihren Vorberichten am liebsten ebenfalls leer gelassen.

So stillos wie der Schotte immer noch gegen Schiedsrichter wettert, spielt mittlerweile auch seine Elf. Und das ist ein Kompliment. United braucht keine "Identität", die Elf spult ideologisch entkernten Multifunktionsfußball ab, der je nach den aktuellen Bedürfnissen alle Facetten zwischen wuchtig-dominant und kühl-abwartend auf den Rasen bringt. Grundlage dafür ist Fergusons unbedingter Zugriff auf seine Kicker, die sich bei ihm gut aufgehoben, aber nie ganz sicher fühlen dürfen.

"Ferguson ist der Freud des Fußballs: ein psychologischer Fallanalytiker mit einer unheimlichen Intuition", schrieb der Telegraph, "er versteht Persönlichkeit, Charakter, Macht, soziale Dynamik". Der einstige United-Profi Eric Cantona sieht in Ferguson "eine Art Genie", da er es schaffe, sich jeder neuen Spielergeneration anzupassen.

Dass Ferguson seine Mannschaft mit den ständigen Wechseln mitunter selbst ein wenig bremst und damit der ganz große Glanz fehlt, nimmt er in Kauf. "Jetzt kommen die wichtigen Spiele, jetzt gut drauf zu sein, ist entscheidend", sagte er vor der Fahrt zum Halbfinal-Hinspiel bei Schalke 04.

In England wird die Elf trotz ihrer ungeheuren Zähigkeit unterschätzt, weil sie zu pragmatisch siegt. "Keine schlechte Mannschaft, aber gemessen an den eigenen Ansprüchen nur Durchschnitt", urteilte der BBC-Experte und frühere Liverpool-Verteidiger Alan Hansen. Ferguson wird es mit Vergnügen gelesen haben: wieder ein Gegner mehr, dem man es zeigen kann.

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