Süddeutsche Zeitung

Manchester in der Champions League:Bei United beginnt der Kehraus

Nach dem bitteren Aus gegen Atlético Madrid steht Manchester United vor wegweisenden Entscheidungen. Inwieweit Interimstrainer Ralf Rangnick dabei noch eine Rolle spielt, ist fraglich.

Von Sven Haist, Manchester

Wie ein Bandit nach einem Raubüberfall ergriff Diego Simeone die Flucht. Der Trainer von Atlético Madrid, wie immer von der Jacke bis zur Krawatte ganz in Schwarz gekleidet, rannte direkt nach dem Abpfiff mit eingezogenem Kopf am Spielfeldrand entlang zum Ausgang. Zwar warfen die wütenden Fans des Manchester United Football Club zahlreiche Bierbecher auf ihn, aber da war Simeone bereits in den Kabinentunnel entkommen, unversehrt - und mit der fetten Beute, soeben mit Atlético auf gewohnt listige Art dem ruhmreichen United den Einzug ins Champions-League-Viertelfinale entrissen zu haben.

Durch das 1:0 (1:0) in Manchester gelang es Atlético als erstem Klub - und damit dem dort seit 2011 dauerangestellten Simeone auch als erstem Trainer -, alle drei bisherigen englischen Königsklassen-Sieger (Liverpool, Chelsea und nun United) in einer K.o.-Runde dieses Premiumwettbewerbs zu besiegen. Nach dem 1:1 in Madrid vor drei Wochen reichte dem spanischen Meister ein spärliches Tor im Rückspiel fürs Weiterkommen. Dabei fühlte sich dieser Siegtreffer durch Renan Lodi (41. Minute) für United tatsächlich wie eine kleine Räuberei an, weil dem wunderbaren Tor ein diskutabler Zweikampf vorausging: Bei der Balleroberung hatte Atléticos Reinildo Mandava den United-Stürmer Anthony Elanga ungestraft mit einem Schubser gestoppt.

Die großzügige Linie von Schiedsrichter Slavko Vincic erkannte das abgezockte Atlético schon in der Anfangsphase, als sich Torwart Jan Oblak bei einer Flanke im Duell mit Elanga verschätzte - wegen seines Aufschreis aber einen Freistoß erhielt. Entsprechend nachvollziehbar war, dass United-Trainer Ralf Rangnick später auf "einige kuriose Entscheidungen" verwies, darunter eben das "klare Foul" an Elanga vor dem 1:0 - aber ohne dass diese Vergehen letztlich "ausschlaggebend" für das Scheitern gewesen wären, wie Rangnick zugab.

Zu häufig allerdings sei Vincic den "zeitraubenden Mätzchen" der Gäste erlegen, bei denen sich in bekannter Manier "immer jemand" auf dem Boden gewälzt habe, kritisierte Rangnick. Daher sei die nur vierminütige Nachspielzeit "ein Witz" gewesen. Obendrein schien der Unparteiische auf die Masche hereinzufallen, das Spiel unverzüglich zu beenden, als Simeone bewusst alle Mann auf der Ersatzbank an die Seitenlinie beorderte, um in geballter Stärke das Ende herbeizuwinken.

Scholes teilt wieder gegen den Trainer aus. Doch das Kernproblem ist die Komposition des Kaders

Der Unmut bei United fokussierte sich auch deshalb auf den Schiedsrichter, weil angesichts der eigenen Überlegenheit wohl keinem anderen Umstand die Schuld zuzuschreiben war - außer den ausgelassenen Torchancen. An der guten Spielstruktur in der ersten Halbzeit ließ sich entnehmen, wie weit Rangnick das windschief zusammengestellte United-Aufgebot in seiner rund dreimonatigen Amtszeit auf Vordermann gebracht hat. Allerdings offenbarte die Mittelarmut von United in der zweiten Halbzeit gegen immer tiefer verteidigende Gäste, welche Altlasten der Klub angehäuft hat, seit sich Ewigkeitstrainer Alex Ferguson 2013 in den Ruhestand begab.

Am markantesten wirkt sich die fehlende Körperlichkeit des Teams und die damit kaum vorhandene Durchschlagskraft in der Offensive aus. Abgesehen von Cristiano Ronaldos sechs Toren hat kein anderer United-Spieler in dieser Saison in acht Königsklasse-Partien mehr als ein Tor erzielt.

Obwohl Rangnick mit zunehmender Spieldauer durch seine Einwechslungen (Pogba, Rashford, Cavani, Mata) immer weiter den Angriff stärkte, war kaum jemand in der Lage, sich gegen die robusten Atlético-Verteidiger zur Wehr zu setzen. Selbst Ausnahmestürmer Ronaldo nicht, der aufgrund seiner Begabung vermutlich bis in alle Ewigkeit Tore schießen würde - aber mit nun 37 Jahren gelingt ihm das halt eher nicht mehr in der entscheidenden Phase der Champions League. Erst zum dritten Mal in seiner beeindruckenden Laufbahn gab der Portugiese in einem Königsklassenspiel keinen Torschuss ab - was auch an den unbrauchbaren Zulieferungen lag. Außer seinem Landsmann Bruno Fernandes (sieben Assists) fehlt ein zuverlässiger Vorlagengeber.

Paul Scholes - einer aus Manchesters dauernörgelnder Expertenriege, die einst wesentlich besser Fußball spielte als sie jetzt Partien analysiert - nannte am BT-Mikrofon jedoch einen anderen Schuldigen für die nun fünfte titellose United-Saison in Serie. Scholes verstieg sich zur Behauptung, dass United "mit dem erfahrenen Simeone als Trainer" gewonnen hätte. Ihm "erschließe" sich nicht, so Scholes, wie der bis Saisonende als Interimstrainer angestellte Rangnick für den Job ausgewählt werden konnte. Folglich sei es nun das Wichtigste, einen "richtigen" Trainer zu finden für eine Elf, die über "einige echte Talente" verfüge.

Bei dieser polemischen Analyse irrt Scholes, denn die Problematik bei United stellt sich genau andersherum dar: Beim Kehraus nach dieser schon jetzt vermaledeiten Saison, die nur durch die erneute Champions-League-Qualifikation in der Liga noch glimpflich ausginge, kommt es für den Verein weitaus weniger auf die Auswahl des Trainers an als auf das Vorgehen bei der Neustrukturierung des Kaders.

Spieler müssten zwingend nach einer klaren Spielidee gescoutet werden, nachdem zuletzt zu viele gegensätzliche Trainerpersönlichkeiten herumgefuhrwerkt haben. Um die Planung voranzutreiben, wäre es vorteilhaft, wenn sich United zeitnah auf einen Coach für die Zukunft verständigen würde. Bei dieser noch nicht entschiedenen, aber drängenden Personalie tendierte der Klub um die US-amerikanische Eigentümerfamilie Glazer in der Vergangenheit oftmals zu titelerprobten Fußballlehrern.

Rangnick könnte bei der Trainersuche in einen Gewissenskonflikt geraten

Doch diesmal könnte sich bei der Suche nach einem Teamchef der mit Rangnick über den Sommer hinaus geschlossene zweijährige Beratervertrag als maßgebend erweisen. Sofern die Klausel nicht als reines Lockmittel für Rangnick gedacht war, fiele die Kaderzusammenstellung fortan in dessen Arbeitsbereich. Rangnick bliebe dann nichts anderes übrig, als das Team mit mehreren ambitionierten, arbeitswilligen Profis einzudecken - und dafür einen geeigneten Trainer zu sichten.

Bei dieser Suche wiederum könnte der 63-Jährige in einen Gewissenskonflikt geraten, weil er wohl am liebsten selbst seine Tätigkeit mit der Mannschaft fortsetzen würde. Die Entscheidungsgewalt in dieser Frage besitzen formal die Vorsitzenden Avram und Joel Glazer sowie der neue Geschäftsführer Richard Arnold, der im Februar für den zurückgetretenen Ed Woodward übernahm. Ein gewichtiges Wort sprechen auch Fußballchef John Murtough und der Technische Direktor Darren Fletcher mit. Beide stehen mit Rangnick in engem Austausch und drückten dessen Tätigkeit bereits im Dezember durch.

Trotz der Enttäuschung über das Scheitern in der Champions League erwies sich Rangnick als fairer Verlierer. Nach der Pressekonferenz gratulierte er seinem Kontrahenten Simeone per Handschlag und wünschte ihm alles Gute. Danach machte sich Simeone endgültig aus dem Staub.

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