Die Leipziger Spieler mussten ihren Trainer Marco Rose an diesem Mailänder Novemberabend erst einmal gar nicht hören, um ihn zu verstehen. Aussichtslos wäre der Versuch wohl ohnehin gewesen, sich im San Siro akustisch gegen die Tifosi durchzusetzen. Das gelingt den Wenigsten. Der Inter-Trainer Simone Inzaghi etwa, den die Fankurve so verehrt, dass sie vermutlich auch mal auf seinen Wunsch hin schweigen würde, hat sich als Lösung angewöhnt, mit den Händen zu kommunizieren, als wäre er als Dirigent an der städtischen Oper, der Scala, und nicht im Fußballstadion tätig. Und Rose? Benutzte am Dienstagabend vor allem die Nackenmuskulatur, um sich mitzuteilen. Immer wieder konnte man seinem Kopf dabei zusehen, wie er Richtung Brust absackte, vor lauter Ernüchterung über die Geschehnisse auf dem Feld.
Desaströs liest sich die Bilanz von RB Leipzig in dieser Champions-League-Saison: fünf Niederlagen aus fünf Spielen, Viertletzter unter den 36 besten europäischen Vereinen. Das ist nicht der Anspruch Leipzigs, was auch für ein 0:1 in Mailand gilt, bei dem das Ergebnis deutlicher hätte ausfallen können. Auch das lässt sich aber selbstverständlich erklären. Unter anderem mit einem der Anlässe für den gesenkten Rose-Kopf.

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Gerade einmal neun Minuten hatte der in der 61. Minute eingewechselte Assan Ouedraogo absolviert, da setzte er sich ohne Gegnereinwirkung verletzt auf den Rasen und musste kurz darauf ausgewechselt werden. 18 Jahre alt ist der Jugend-Nationalspieler, der gerade erst von einer Verletzung zurückgekehrt war und den Rose auch deshalb aufbot, weil ihm nicht viel anderes übrig blieb: Nur sechs RB-Auswechselspieler waren angesichts zahlreicher Verletzter (darunter die Stammspieler Xavi Simons und David Raum) nach Mailand mitgereist, bis auf Ersatztorwart Maarten Vandevoordt kamen alle zum Einsatz. Diese erschwerten Umstände sind im Kontext der Champions-League-Misere zu nennen, allerdings taugen sie nicht als Ausrede für alles.
„Ich bin auch nur ein Mensch“, sagte Marco Rose später: „Wenn ein 18-jähriger Junge sich da (...) verletzt, das kann dann auch dazu führen, dass der Kopf kurz unten ist.“ Der Leipziger Trainer versicherte, er habe Ouedraogo gut zugeredet und sein Haupt kurz darauf wieder angehoben („Es nützt ja nichts“). Er sah allerdings weiterhin nicht viel Positives.

Bei aller gerechtfertigten Zurkenntnisnahme der Umstände war es eine in Teilen erschreckend schwache Leistung der Leipziger gewesen, passenderweise gekrönt durch ein letztlich spielentscheidendes Eigentor von Castello Lukeba (27. Minute). Insbesondere in der ersten Halbzeit kam die Mannschaft kaum in der gegnerischen Hälfte zur Geltung und fand sich in genau der Art Fußball wieder, die nach Definition der Red-Bull-Lehre eigentlich strengstens untersagt ist. Mutiges, hohes Anlaufen, energisches Nachsetzen, all das sind ja die Grundtugenden der Schule, die dem Standort Leipzig im vergangenen Jahrzehnt immer ein Mindestmaß an Respekt unter vielen kritischen Stimmen eingebracht hat. Aber von denen war gegen Inter erneut nichts zu sehen, wie auch Rose feststellte: „In der ersten Halbzeit hat man uns angemerkt, dass wir mit unserem Selbstverständnis ringen.“
Zwei Extreme prallten da aufeinander. Auf der Gegenseite: ein vorübergehender Champions-League-Tabellenführer aus Mailand, der seine Dominanz und Sicherheit mit einer Seelenruhe im Ballbesitz zelebriert. Alles bei Inter wirkt orchestriert und inszeniert, eingespielt und routiniert, wie für die große Bühne gemacht. Die Mannschaft des genialen Dirigenten Inzaghi hat noch kein Gegentor im Wettbewerb kassiert, was auch daran liegt, dass sie sich ihrer fußballerischen Prinzipien im San Siro höchst bewusst ist: Langsamkeit in gewissen Aktionen ist bei Inter ein Stilmittel, das eingesetzt wird, um den Rhythmus des Spiels zu kontrollieren.
RB-Konzernchef Mintzlaff besucht vor dem Spiel in Mailand die Kabine
Bei Leipzig war die Langsamkeit hingegen ein Ausdruck der spielerischen Ratlosigkeit. Anders als zu den besten Zeiten vor einigen Jahren machen die Leipziger nicht mehr selbst die Musik, sondern laufen ihr hinterher: Die Spieler wirken nicht nur als Einheit verunsichert, sondern auch individuell. Christoph Baumgartner und Nicolas Seiwald etwa spielen bei der österreichischen Nationalmannschaft unter Ralf Rangnick derzeit erfolgreicheren RB-Fußball als bei Leipzig.
Von der Tribüne in Mailand aus beobachtete das auch Konzern-Vorstand Oliver Mintzlaff, der am fußballerischen Aushängeschild der Red-Bull-Sportambitionen weiterhin beachtlich nahe dran ist. Vor dem Spiel besuchte er die Kabine, auch sonst hält er derzeit engen Austausch mit dem Cheftrainer Rose, der sogar am Nachmittag noch einmal mit ihm telefoniert hatte, wie er auf der Pressekonferenz erzählte. Dieselbe Veranstaltung nutzte Rose für eine Art Rasenballsport-Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an Gott, ich glaube an meine Jungs, ich glaube an unseren Weg, an unseren Verein“, sagte Rose, sah sich aber ansonsten „nicht in der Situation, mich hier zu erklären.“ Einigermaßen trotzig wirkte er in diesem Moment, den Kopf jedenfalls hatte er hocherhoben.