Es ist nicht viel, was dieser Tage in Lissabon darauf hinweist, dass hier das vielleicht spektakulärste und sicher atypischste Klubturnier der Fußballhistorie stattfindet. Lissabon ist noch immer im Griff der Pandemie, oder der situação, wie es hier allenthalben heißt.
Die Menschen tragen mit Langmut ihre Masken, die Hotels sind kaum zur Hälfte ausgelastet, und nicht einmal der gewiefteste Fährtenleser der Apachen wäre imstande, eine Spur der angeblich 16 000 ticketlosen Fans zu finden, mit denen die portugiesischen Behörden rechnen.
Champions League:Ein finaler Streich des Schicksals
Drei Minuten fehlen Atalanta Bergamo für das Halbfinale in der Champions League: Das Team fällt nach und nach in sich zusammen. Die italienische Presse feiert den Klub dennoch.
Im Grunde ist nur ein einziges Königsklassenindiz zu finden, verteilt auf 1400 Stellwände, quer durch die Stadt: ein Plakat, mit dem RB Leipzig um die Gunst der Fans von Benfica Lissabon buhlt. "As tuas cores ainda estão em jogo", ist in Anspielung auf Benficas rot-weißes Jersey zu lesen, unter einem mannsgroßen Foto von Marcel Sabitzer, Christopher Nkunku und Marcel Halstenberg: "Deine Farben sind noch immer im Spiel." An diesem Donnerstag wird das erstmals der Fall sein, in Leipzigs Partie gegen Atlético Madrid, im Estádio José Alvalade von Sporting Lissabon.
Neben Werner fehlen Spieler wie Cavani, Meunier oder Sané
Werbung in eigener Sache - das hätten die Rot-Weißen aus Leipzig nicht gerade billiger, vielleicht aber nachhaltiger haben können. Denn die Chancen auf eine längere Verweildauer in der Champions League wären mit Timo Werner vermutlich größer gewesen, als sie es jetzt ohne ihn sind. Werner, das ist jener Mann, der in dieser immer noch laufenden Saison sieben Champions-League-Tore schoss - und damit die Hälfte aller Leipziger Treffer.
Werner aber ist nicht mit angereist, sondern bereits vor Wochen zum FC Chelsea nach London umgezogen. Die Personalie taugt als perfektes Exempel für die extraordinären Umstände dieses Turniers. Denn auch bei anderen Viertelfinalisten gab es Profis, die ihren zum 30. Juni auslaufenden Vertrag bis zum Ende der Champions League hätten verlängern können - und schließlich desertierten. Thomas Meunier, heute bei Borussia Dortmund, und Edinson Cavani verließen Paris St.-Germain. Der Langzeitverletzte Leroy Sané zog schon um von Manchester City zum FC Bayern. Er hatte sich 2019 mitten im Poker um einen Wechsel zum FC Bayern schwer am Knie verletzt - und seither nicht mehr gespielt. Doch kein Team, das in Lissabon weilt, ist so heftig und so prominent von einem plötzlichen Abschied getroffen worden wie die Delegation aus Sachsen.
Aus dem privaten Umfeld Werners ist zu hören, dass der Nationalstürmer "innerlich gekotzt" habe, den kürzesten Weg zum großen Champions-League-Titel nicht mehr mitgehen zu können. Werner selbst deutete das Ende Juni in einem Interview mit dem Kicker an: "Es tut mir sehr weh, mit RB nicht die Champions League zu Ende zu spielen." Das war kurz nachdem ihm diverse Exprofis, darunter der bekanntermaßen altruistische Stefan Effenberg, öffentlich absprachen, das Spiel zu lieben. "Nicht ich habe mich dagegen entschieden. Es war eine gemeinsame Entscheidung von allen Beteiligten", sagte Werner. Das Echo bei den Leipzigern hört sich identisch an, es sei eine "gemeinschaftliche Entscheidung" gewesen, sagte RB-Manager Markus Krösche in Portugal.
Gleichwohl: Natürlich hatte sich Leipzig mit der Frage befasst, Werner für die Dauer der Champions League zu halten. Doch zu konkreten Verhandlungen kam es dem Vernehmen nach nicht; die damit zusammenhängenden Fragen blieben theoretischer Natur. Zum Beispiel: Wie hoch die finanzielle Entschädigung gewesen wäre, die Chelsea gefordert hätte, etwa durch eine Absenkung der 53-Millionen-Euro Ablöse. Oder der Abschluss einer Versicherung gegen eine mögliche Werner-Verletzung.
Das Beispiel Sané aus dem vergangenen Jahr gilt ja vielen als Beleg dafür, dass sich Verletzungen gern dann ereignen, wenn ein Spieler mit dem Kopf woanders ist als auf dem Rasen. Ganz abgesehen davon, dass niemand die Hand dafür ins Feuer legen kann, dass Werner unter solchen Umständen seine beste Leistung hätte abliefern können. Aus berufenem Munde ist zu hören, dass Werner sich im Lichte all dieser Umstände - unter Schmerzen - mit dem Gedanken eines klaren Schnitts arrangiert habe. Nur so habe er den Umzug ins Ausland, Wohnungsauflösung in Leipzig und Wohnungssuche in London, sowie die gewissenhafte Vorbereitung auf das Abenteuer Chelsea angehen können, das unter der Rubrik "Königstransfer" steht. Immerhin: Chelsea hat sich für die kommende Champions League qualifizieren können.
Wer ersetzt Werner gegen Atlético?
Außer Frage steht, dass die Abwesenheit des Stürmers RB-Trainer Julian Nagelsmann vor eine Herausforderung stellt. Doch Nagelsmann begreift die neue personelle Situation als Chance für diejenigen Kadermitglieder, die unter Werners Dominanz litten. "Timo war immer gesetzt, weil er immer getroffen hat. Auch wenn er vielleicht mal nicht so gut trainiert oder gespielt hat. Damit hat er natürlich andere im Team geblockt", erklärte Nagelsmann kurz vor Anpfiff: "Und da geht es dann auch um Spielerkombinationen, weil es Paare gibt, die besser zusammenpassen."
Was das am Ende fürs Spiel gegen Atlético heißt? Nagelsmann hütete sich auch am Mittwoch, seinem argentinischen Kollegen Diego Simeone Einblicke in die Planspiele zu gewähren. Es sei möglich, mit "zwei Brechern im Sturm" zu spielen, also mit Patrik Schick und Yussuf Poulsen. Die Alternative sei, gegen die Defensiv- und Umschaltspielkünstler von Atlético im Stile des FC Barcelona anzutreten, das heißt: mit einem Maximum an kreativen Mittelfeldspielern. Die Brecher-Variante hieße, die Innenverteidiger auch in der Luft besser zu schäftigen; der Barça-Stil öffnet die Zwischenräume. Eine Entscheidung habe er noch nicht getroffen. So oder so: "Timo Werner ist schon ein Verlust, denn er war hier der Star und hatte eine unglaubliche Präsenz in der Kabine", sagte Nagelsmann. Andererseits habe Leipzig "sehr viele Spieler, die Tore schießen können", wirft Manager Krösche in die laufende Debatte ein: "Wir haben genug Qualität im Kader. Und mit dem Kader wollen wir Atlético schlagen."