Die erste Champions-League-Partie der Saison war vorüber, und in der Bar „Bonanno“ im Estadio Vicente Calderón wurde nichts von dem diskutiert, was eines Tages im Almanach zu lesen sein wird. Nicht das Ergebnis, ein 2:1-Sieg Atlético Madrids gegen RB Leipzig. Nicht der Spielverlauf, nicht der Umstand, dass das Siegtor von José Giménez spät erzielt und der Verteidiger vom Publikum standesgemäß mit „U-ru-guayo, U-ru-guayo“-Rufen verabschiedet wurde. Gesprochen wurde über eine Neuigkeit, für die man gute Augen haben musste.
„Habt ihr das gesehen?“, raunten die Verständigen und meinten Diego Simeones neue Kleider. Der Anzug des Atlético-Coaches ist nicht mehr pechschwarz wie in der Vergangenheit, in der seine Mannschaft vergeblich der ersten Champions-League-Trophäe der Vereinsgeschichte hinterherlief. Sondern: tiefblau. Ein solcher Wechsel des Attuendos ist in diesem Fall keine Banalität. Denn Simeone ist abergläubischer als jeder andere Trainer Europas und sein Mystizismus infizierend. Der Glaube seiner Jünger hat nun also neue Farben, denn es war nicht zu leugnen, dass am Ende auch der Faktor Glück beim 2:1 eine Rolle spielte.
Andererseits handelte es sich um jene Art von Fortune, die man durch beharrliche Arbeit erzwingt, in diesem Fall gegen eine Leipziger Mannschaft, die in Madrid zweierlei zeigte: was sie sein kann und was sie ist. Was sie sein kann, war in der vierten Minute zu begutachten, als RB-Stürmer Benjamin Sesko bei einem Konter mit Giraffenschritten erst das Feld vermaß und dann per Kopf zum 1:0 zur Stelle war, als Atlético-Torwart Jan Oblak den Schuss abwehrte, den Loïs Openda abgegeben hatte. Danach zerfloss RB aber. Wie schon beim torlosen Unentschieden in der Bundesliga gegen den 1. FC Union Berlin vom Wochenende fehlten im offensiven Mittelfeld eine ordnende Hand und im defensiven Mittelfeld eine solide Absicherung.
Seine Mannschaft sei „zu fehleranfällig“ gewesen und habe „ohne Grund“ das Vertrauen in sich selbst verloren, bemängelte Leipzigs Trainer Marco Rose. Er bat aber nach der ersten RB-Niederlage seit Februar um mildernde Umstände, weil man nicht vergessen dürfe: „Wir hatten heute fünf U21-Spieler am Platz.“
Lukeba kämpfte, andere Leipziger Spieler ließen es an Intensität missen
Ein Grund dafür war, dass Kevin Kampl noch kurz vor der Partie verletzungsbedingt vom Spielberichtsbogen gestrichen und durch den Zugang Arthur Vermeeren ersetzt werden musste. Das Youngster-Quintett komplettierten der erwähnte Sesko, der enttäuschende Xavi Simons, der zur Halbzeit ausgewechselte Antonio Nusa sowie Castello Lukeba. Dessen Leistung war dazu angetan, die Greenhorn-Theorie mindestens zu relativieren. Denn der französische Innenverteidiger zeigte, dass man auch als 21-Jähriger dem Fußball „echter Männer“ (Leipzigs Christoph Baumgartner über Atlético) standhalten kann. RB-Trainer Rose attestierte Lukeba ein „sehr erwachsenes Spiel“.
In keiner Szene war Lukebas Wille augenscheinlicher als bei der Eskalation seiner Privatfehde mit Ángel Correa. Nicht, dass man der Gewalt das Wort reden müsse, aber Lukeba zeigte, dass er zu der Sorte Verteidiger gehört, die bei aller Fairness nicht bereit sind, die zweite Wange hinzuhalten. Wenige Minuten vor der Halbzeitpause – Antoine Griezmann hatte per sehenswertem Volley den zwischenzeitlichen Atlético -Ausgleich erzielt – erwischte Correa den jungen Lukeba am Knöchel, der Silbermedaillengewinner von Paris wälzte sich minutenlang am Boden. Er merkte sich aber unter Schmerzen die Rückennummer Correas – und fegte ihn bei nächstbester Gelegenheit von den Beinen. Andere Spieler hingegen ließen es an Intensität phasenweise derart missen, dass Linksverteidiger David Raum die Kollegen Simons und Vermeeren wild gestikulierend daran erinnerte, dass man im Estadio Metropolitano den Fuß hinhält und nicht wegzieht.
Insbesondere Vermeeren wirkte danach geknickt – und bestätigte, dass Simeone ihn nach nur einem Jahr bei Atlético an Leipzig ausgeliehen hatte, weil er ihn für zu zart befunden hatte. Zurück will er den Leihspieler offenkundig nicht. Vermeeren sei ein „netter Junge“ gewesen, der beim Besuch an alter Wirkungsstätte gewiss viel „Stress“ verspürt und doch „ein korrektes Spiel“ geboten habe, sagte Simeone. Vermeeren wurde bei seiner Auswechslung auch von den Atlético-Fans mit überaus höflichem Applaus verabschiedet.
In Ekstase verfielen die Atlético-Anhänger und Simeone erst, als Giménez in der 90. Minute per Kopf ins Netz traf und den Sieg besiegelte. Es war ein Treffer, der ihm Mehrarbeit bescheren dürfte. Am Mittwoch hatte Giménez die Pressekonferenz bestritten und damit den früheren Dortmunder Axel Witsel abgelöst, der bis zum letzten Ausscheiden Atléticos immer am Vortag des Spiels vor die Journalisten treten musste. Nun wird vorerst Giménez plaudern müssen. Denn wie zuvor erwähnt: Simeone ist abergläubisch.
Den Preis des besten Spielers der Partie schleppte freilich Torschütze und Vorlagengeber Griezmann ab. Er freute sich wie – und für – ein Kind. Seinem Sohn Amaro dienten die Trophäen bei Spielen im Wohnzimmer als imaginäre Pfosten, verriet Griezmann: „Wir haben ein neues Tor!“