Champions League:Klopps König

  • Gegen die AS Rom veanstaltet der FC Liverpool ein Spektakel, wie man es in einem Champions-League-Halbfinale selten gesehen hat.
  • Mo Salah ist dabei der überragende Mann, er trifft unter anderem mit einem 100-km/h-Schuss aus 28 Metern und bereitet zwei Tore vor.
  • Klopp sagt zu den Journalisten: "Wenn Ihr denkt, dass er der Beste in der Welt ist, schreibt es oder sagt es. Ich sage, er ist in einer außerordentlichen Weltklasse-Verfassung."

Von Sven Haist, Liverpool

Der Wahnsinn tobte an der Anfield Road. Ein Tor, zwei Tore, drei Tore, vier Tore, fünf Tore für den FC Liverpool nach etwas mehr als einer Stunde. Die Fans wirbelten ihre Schals durch die Luft und schickten ihren Lieblingsgesang durchs Stadion, wonach sie ganz Europa erobert hätten: Allez! Allez! Allez! Alles war rot - für die AS Roma muss sich das angefühlt haben wie in der Hölle. Aus Frustration verließ Angreifer Edin Dzeko für kurze Zeit einfach das Spielfeld, sein Sturmpartner Cengiz Ünder, dessen Tempoläufe die Reds als größte Gefahr für die eigene Abwehr ausgemacht hatten, erschien schon gar nicht mehr zur zweiten Halbzeit. Der Torwart Alisson Becker weigerte sich nach einem Gegentor, den Ball für die Fortsetzung des Spiels herauszurücken. Als sich der Ball erneut in seinem Tor befand, schoss er ihn in den Nachthimmel, auf dass er nie mehr auf die Erde zurückfinde.

In diesem Spektakel drohte der stolzen Roma die höchste Niederlage im Europapokal. Vor Jahren gab es jeweils ein 1:7 gegen den FC Bayern und Manchester United. Die Statistiker hielten es sogar für angebracht, auf Liverpools höchsten Erfolg im internationalen Wettbewerb hinzuweisen, 10:1 gegen das finnische Oulon Palloseura im Oktober 1980. Alles schien möglich zu sein für Liverpool, wenn nicht Jürgen Klopp den Wahnsinn, den er als Trainer hier lostrat, unfreiwillig gestoppt hätte.

Das 5:2 setzte die Reihe der wilden Nächte fort

Eine Viertelstunde vor Schluss erlöste Klopp mit der Auswechslung des begnadeten Angreifers Mohamed Salah die Spieler der Roma, die zu diesem Zeitpunkt miteinander stritten, sich aufgegeben hatten oder einfach nur noch nach Hause wollten. Mit zwei Toren (36./45.) und zwei Vorlagen für Sadio Mané (56.) und Roberto Firmino (61.), der zudem nach einem Eckball per Kopf traf (69.), hatte der Ägypter Salah seine einstigen Mitspieler tyrannisiert - bis zum vergangenen Sommer war er ja selbst noch ein Romanista gewesen. Am besten war das dem brasilianischen Innenverteidiger Juan Jesus anzusehen, den sein Trainer Eusebio Di Francesco vorzeitig vom Platz nahm, um ihn zu schützen. In Jesus' Gesicht war regelrecht Furcht vor Salah zu erkennen, der ihm bei jedem Angriff über die rechte Seite aufs Neue davonrannte.

Die Maßnahme, Danny Ings für Mo Salah ins Spiel zu bringen, konnte Klopp deshalb glatt als Barmherzigkeit ausgelegt werden. Die Abwesenheit seines besten Angreifers sorgte für einen abrupten Spielstopp im eigenen Team und eine Art Wiederauferstehung der Roma. Zwei späte Tore für die Italiener durch Edin Dzeko (81.) und den eingewechselten Diego Perotti (85./per Handelfmeter) führten dazu, dass nach Abpfiff plötzlich auch die Reds verdutzt dastanden, obwohl sie das Hinspiel im Halbfinale der Champions League immer noch deutlich gewonnen hatten.

Das 5:2 setzte die Reihe der wilden Nächte des Klubs im Europapokal fort. Die Teilnahme am Endspiel der Champions League am 26. Mai in Kiew wäre das achte Finale für Liverpool im prestigeträchtigsten europäischen Wettbewerb, das erste seit dem 1:2 vor elf Jahren gegen den AC Mailand. Und das Ziel ist nah: Nach einer Niederlage mit mindestens drei Toren kamen in der Geschichte der Champions League lange Zeit überhaupt nur Deportivo La Coruña und der FC Barcelona weiter - bis diese Aufholjagd kürzlich und ausgerechnet der AS Roma ebenso gelang.

Die Erinnerung an das römische Wunder gegen Barcelona (Hinspiel 1:4, Rückspiel 3:0) vermieste den Reds das rauschhafte Fußballspiel. Geradezu spartanisch fiel angesichts des vorherigen Spektakels die Ehrenrunde aus, sowohl die Protagonisten als auch die Zuschauer suchten zügig die Ausgänge auf. Sogar der stets gut gelaunte Jürgen Klopp hatte zunächst Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.

"Im Moment fühlt es sich nicht so gut an. Wenn irgendjemand sagen möchte, dass es mein Fehler war, dass wir die Treffer kassiert haben, weil ich den Stürmer wechselte, habe ich kein Problem damit. Mo ist die ganze Zeit gelaufen, und es wäre nicht hilfreich für uns gewesen, wenn er sich verletzt hätte", sagte Klopp. Als es mehrmals an der Türe zum Medienraum klopfte, ergänzte er: "Das Witzige ist: Die wollen rein, und ich will raus. Das bringt mich jetzt direkt wieder in bessere Stimmung."

Für 40 Millionen Euro kam Salah aus Rom

Bei den Fans kehrte die Freude über die furiose Leistung des eigenen Teams mit der Zeit auch wieder zurück. Am Concert Square in der Innenstadt feierten Hunderte Menschen bis in die frühen Morgenstunden hinein. Am lautesten erwiesen sie Salah die Ehre, indem sie ihn als ägyptischen König glorifizierten. Symbolisch zur Liedzeile, in der es heißt, dass Salah die Außenbahn niederrennt, sprinteten einige die Straße entlang.

Für knapp 40 Millionen Euro hatte der FC Liverpool im Sommer den 1,75 Meter großen Teufelskerl aus der italienischen Hauptstadt geholt. Was für ein Spiel wäre es wohl geworden, wenn Salah noch Römer gewesen wäre an diesem Abend? "Wenn, wenn, wenn", sagte Klopp, "wenn Neymar nicht nach Paris gegangen wäre, hätten wir vielleicht Philippe Coutinho noch bei uns."

Warnung fürs Rückspiel

Beim Führungstor knallte Klopps König den Ball aus 23 Metern mit knapp 100 Kilometern pro Stunde und 0,86 Sekunden Flugzeit in den Winkel - ein Geniestreich. Nach seinem zweiten Treffer fehlen Salah, 25, noch vier weitere Tore, um den Uraltrekord der Vereinslegende Ian Rush zu egalisieren, der in der Saison 1983/84 für Liverpool 47 Mal den Ball ins Netz schoss. "Was für ein Spieler!", sagte Klopp: "Wenn ihr denkt, dass er der Beste in der Welt ist, schreibt es oder sagt es. Ich sage, er ist in einer außerordentlichen Weltklasse-Verfassung." Die Times titelte: "Unaufhaltsam (solange Salah auf dem Platz steht)".

Der Spielverlauf mit und ohne Mohamed Salah dient dem FC Liverpool nun als Warnung für das Rückspiel am kommenden Mittwoch. Im Stadio Olimpico hat die Roma in der Champions League in dieser Saison kein Tor kassiert, es lebt die Erinnerung an die magische Nacht gegen Barcelona. "Rom muss gegen uns gewinnen. Und wir sind nicht Barcelona", sagte Klopp. Der Wahnsinn soll bei der Auswärtsreise in die ewige Stadt diesmal zu Hause bleiben.

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