Vielleicht lässt sich das gesamte verschwendete Talent an der einen kurzen Flugschau bemessen, die diesen schwarzen Abend für den italienischen Klubfußball überschattete. Im San Siro von Mailand lief die 51. Minute, die AC Milan hatte bis hierhin auf beachtliche Weise das Geschehen kontrolliert und führte 1:0, da lief Theo Hernandez in den Strafraum von Feyenoord Rotterdam und setzte zu einer höchst einfältigen Schwalbe an. Der Linksverteidiger gilt in Italien als einer der besten seines Fachs, aber auch als ein Grenzgänger am Rande zum Leichtsinn, was in diesem Fall direkte Folgen hatte: Unverzüglich wurde Hernandez für seinen Betrugsversuch mit Gelb-Rot vom Platz gestellt, 20 Minuten später kassierte ein nun verunsichertes Milan den Ausgleich. Weitere 20 Minuten später war die Champions-League-Saison für das Team beendet. Und der italienische Fußball in einer Schaffenskrise.
Als „schwarzen Abend“ bezeichnete die Gazzetta dello Sport später diesen Februar-Dienstag, an dem an gleich zwei Orten der Lombardei das ganze Selbstverständnis einer Nation infrage gestellt wurde: Milan verspielte nach dem 0:1 im Hinspiel ein Weiterkommen gegen das kleine Rotterdam leichtfertig, und im benachbarten Bergamo verloren die gefeierten Europa-League-2024-Sieger von Atalanta 1:3 gegen den kleinen Club Brügge. Und das Ausscheiden von Juventus Turin, am Mittwochabend durch ein 1:3 n.V. bei der PSV Eindhoven, stand da ja sogar noch bevor.
Die Folgen dieser Niederlagen gegen verhältnismäßige kleine Standorte des europäischen Fußballs könnten mittelfristig spürbar sein: Im Kampf um einen fünften Startplatz in der kommenden Champions-League-Saison hat nun Italiens Konkurrent Spanien alle Trümpfe in der Hand, auf Platz zwei hinter der englischen Premier League.
Nach Ansicht der Bilder am Dienstagabend hätte es zwischenzeitlich gute Argumente gegeben, diesen italienischen Fußball zum zumindest zweitbesten in Europa zu erklären. Milan spielte mutig und offensiv wie zuletzt häufiger unter dem neuen Trainer Sergio Conceicao, Feyenoord hätte sich über einen deutlicheren Rückstand nicht beschweren dürfen. Die ursprünglich erwarteten Verhältnisse waren zu sehen: Auf der einen Seite spielte eine niederländische Überraschungself, aber auf der anderen ihr ehedem bester Stürmer. Der Mexikaner Santiago Gimenez war neben Spielern wie Joao Felix und Kyle Walker einer von zahlreichen hochkarätigen Winterzugängen bei Milan. Und nun traf er zum frühen 1:0 gegen seinen Ex-Verein Feyenoord. Die Einkaufspolitik der Mailänder war demnach nicht das Problem dieser Nacht. Aber sie brachte herzlich wenig ein - wegen des fliegenden Hernandez.
Dass gleich zwei italienische Teams die Nerven verlieren, lässt nichts Gutes erahnen
Selbstverschuldet war daher dieses Ausscheiden, und es passt zur gesamten Saison der Rossoneri, die ihren Erfolg derzeit am effizientesten selbst bekämpfen, in der Liga (Platz sieben), aber auch in Europa: Ein schwerer Abwehrfehler und eine daraus folgende Abschlussniederlage in der Gruppenphase gegen Zagreb brachte sie überhaupt erst in die Playoffs statt direkt ins Achtelfinale. Und im Hinspiel in Rotterdam schenkte AC-Torwart Mike Maignan den Niederländern ein Tor, wodurch diese überhaupt erst ins Spiel kamen. Höchst untypisch ist das alles für eine italienische Spitzenmannschaft, die sich normalerweise rühmt, mit gewisser Eiseskälte K.o.-Spiele zu bestreiten.
Eine ähnliche gelagerte Naivität war in Bergamo ausschlaggebend. Sicherlich, La Dea ist nicht das große, weltbekannte Milan und darf sich nach dem Ausscheiden daher auch nicht ganz so blamiert fühlen. Nur hatte sich die Mannschaft von Gian Piero Gasperini ihren Status als Geheimfavorit so hart erarbeitet, dass es fast schon tragisch war, wie leichtfertig sie ihn innerhalb von 90 Minuten verspielte. Mit den eigenen Waffen wurde Atalanta geschlagen: Brügge schaltete blitzschnell um und verwertete seine Chancen effektiv, während Atalanta auf beinahe groteske Art und Weise keine Tore erzielte. Dass der sonst stets herausragende frühere Leipziger Ademola Lookman nach seinem 1:3 den Elfmeter zum Anschlusstreffer vergab, passte ins Bild. Genauso wie der wahnwitzige Ausraster des entnervten Kapitäns Rafael Toloi kurz vor Schluss, der seinem Brügge-Gegenspieler wutentbrannt in die Seite sprang und dafür vom Platz flog.
Dass gleich zwei italienische Teams an einem Abend die Nerven verlieren, lässt nichts Gutes erahnen für eine Fußballnation, die sich eigentlich in einer internationalen Erfolgsphase befand – nun aber wieder auf eine bewährte Größe hoffen muss: Inter Mailand, zuletzt mit einer Formdelle unterwegs, war nach dem Mittwochabend der verbliebene Wettstreiter in der Champions League. Ein italienischer Titelgewinn in diesem Wettbewerb liegt nun bald 15 Jahre zurück.