Süddeutsche Zeitung

Champions League: Inter Mailand:Die Inter-Identitätskrise

Das Derby gegen Milan wurde zum Debakel, die Mannschaft ist außer Form: Inter Mailand steckt in einer Krise und muss sich neu erfinden - am besten bis Dienstagabend.

Birgit Schönau

Ein Derby ist verloren, das Leben geht weiter. "Alles ist offen", sagt Leonardo, nach dem Desaster kommt die Champions League, also bitte umblättern zu Schalke 04. Der arg geschundene Rasen von San Siro soll drei Tage nach dem 0:3 in der Liga gegen den ACMailand die Bühne von Inters Wiederauferstehung sein - in welcher Form, darüber wird noch diskutiert. Wahrscheinlich ist die Rückkehr zu jenem Aggregatzustand, den der Trainer Leonardo eigentlich überwinden wollte, bis er grandios an seiner alten Mannschaft Milan scheiterte.

Von fest zu flüssig, das war einmal, jetzt geht es wieder von flüchtig zu fest. Aus der allzu weit auseinander gezogenen Derbytruppe, in der ein fast autistisch aufspielender Wesley Sneijder die ohnehin lose Verbindung zwischen Mittelfeld und Dreiersturm endgültig kappte, soll nun erst mal eine Mannschaft mit einem zielstrebigen und durchsetzungsfähigen Kompaktsystem werden.

Leonardo wird auf die Mittelfeldraute seines Vorgängers José Mourinho setzen, mit Christian Chivu anstelle des gesperrten Lucio als Angelpunkt der Viererverteidigung, einem Mittelfeld um Kapitän Javier Zanetti und Sneijder hinter den Spitzen Diego Milito und Samuel Eto'o.

Die Rückkehr des melancholischen "Principe" Milito, der nach einer triumphalen Champions-League-Saison eigentlich mit Mourinho nach Madrid wechseln wollte, stattdessen aber in Mailand mit allerlei Unpässlichkeiten haderte, hätte zu anderen Zeiten vielleicht so etwas wie Optimismus verbreitet. Jetzt aber erscheint sie wie das Fanal jenes alten, lang verschollen geglaubten Inter-Phänomens, das im Jahre eins nach dem Triple wieder auf dem Platz zu bestaunen ist: die Identitätskrise.

Lange galt Inter als größte Hamlet-Maschine des Kontinents, unermesslich reich, unglaublich talentiert und unergründlich erfolglos, ein Abbild ihres Präsidenten Massimo Moratti, der mit vollen Händen seine Petrol-Milliarden dafür ausgab, aus dem Schatten eines übermächtigen Vaters herauszuwachsen.

Erst der bis zum Zynismus pragmatische Portugiese Mourinho schaffte es, die ewig grübelnde Internazionale auf Erfolg zu trimmen, indem er ihre primadonna assoluta Eto'o zum Kulissenschieber auf der Außenbahn degradierte und den braven Torlieferanten Milito zum Prinzen überhöhte. Alle Phantasie wurde bei Mourinho zum Gefasel, er verlangte stattdessen Konzentration, Disziplin, Selbstaufgabe. Die Elf sollte ihre Gegner nicht ausspielen, sondern knacken wie eine Nuss - und weil das gelang und Mourinho dafür ein Heidengeld kassierte, wurde er zum genialen Drachentöter der alten Inter-Schwäche ausgerufen.

Doch jetzt ist Mourinho weg und in Mailand wurde die Identität des Siegerkollektivs abgestreift wie eine alte Haut der Visconti-Schlange aus dem Vereinswappen. Mit dem neuen Trainer Leonardo ist die Internazionale wieder da, wo sie jahrelang war: bei Hamlet. Der aristokratisch-elegante Brasilianer wird von Rachegefühlen gegen seinen früheren Arbeitgeber Berlusconi getrieben. Spät, sehr spät erkannte Leonardo, dass etwas faul ist im Staate seines Überbosses, zu seinem Vergeltungsfeldzug wechselte er unter lauter Anklage des einstigen Patrons die Seiten. Er wechselte vom strammen Antikommunisten Berlusconi zu jenem Verein, der einst unter Mussolini seinen Namen ändern musste, weil ihm Internazionale zu kommunistisch klang.

Seine Inter ließ Leonardo dann spielen wie vor Jahresfrist den AC Mailand, alle Mann nach vorn, mit Samuel Eto'o als deus ex machina. Dass diese Mannschaft dann am vergangenen Wochenende im Stadtderby ausgerechnet gegen den früheren Verein des Regisseurs mit 0:3 und großem Theaterdonner unterging, entbehrt nicht einer gewissen Logik.

Plötzlich ist Inter nicht mehr auf der Verfolgerposition, sondern auf Platz drei, plötzlich geht es wieder um Sein oder Nichtsein. Und da legt Leonardo sein erklärtes Lieblingsbuch beiseite, den an den Grenzen der Realität spielenden Philosophie-Roman "Sophies Welt", um entschlossen das alte Killerschema des knallharten Realisten Mourinho zu entstauben. Damit alles offen bleiben kann, wird zunächst einmal hinten zugemacht, es ist das alte Lied vom Luxus der Leichtigkeit und von der Notwendigkeit der Steherqualitäten, jetzt ist bereit sein alles. Der Gegner aus Schalke wittert ja schon Morgenluft, und er hat Raúl.

Die Zeit ist aus den Fugen, die Mannschaft ist außer Form, alles muss neu erfunden werden, und zwar am besten bis Dienstagabend, 20.45 Uhr. Das international eher unbekannte Schalke zu besiegen, schien vor Wochenfrist noch ein Kinderspiel. Nun aber hieße es, das Derby-Trauma zu überwinden, zu neuen Ufern aufzubrechen, doch noch an Milan vorbeizuziehen, denn die verfeindeten Stadtrivalen sind schon raus aus der Champions League. Gegen die Deutschen auszuscheiden? Das wiederum würde den Auftakt zu einem neuen Alptraum bedeuten. Undenkbar und doch nicht unerwartet.

Denn so wie Inter Mailand 45 Jahre gebraucht hat, um der wichtigsten europäischen Trophäe hinterher zu jagen, so hat ein Jahr nicht ausgereicht, sich davon zu überzeugen, dass Siegen normal sein kann.

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SZ vom 05.04.2011/jüsc
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