Silvia Neid ist ziemlich unverdächtig, falsches Lob auszusprechen. Die deutsche Bundestrainerin sagt meist, was sie denkt, und zu diesen beiden Mannschaften, die sich an diesem Donnerstag (20.30 Uhr/Eurosport) in London im Champions-League-Finale der Frauen gegenüberstehen, hat sie sich schon einige Gedanken gemacht.
Der VfL Wolfsburg, der erstmalige deutsche Meister und Pokalsieger, trifft im Stadion des FC Chelsea an der Stamford Bridge auf Olympique Lyonnais, den mehrfachen französischen Meister, Pokalsieger und europäischen Titelverteidiger. Beide haben eine jeweils beeindruckende Saison hinter sich, doch Neids Fazit ist eindeutig. "Wolfsburg hat eine Chance", sagt Neid, die das Spiel im Stadion verfolgen wird. Na, immerhin.
Wer die Ausgangslage dieses hochklassigen Frauenfinales verstehen will, sollte nicht nur einen Blick auf die beiderseits mit internationalen Topspielerinnen bestückten Kader werfen, sondern auch Megan Rapinoe zuhören. Die Mittelfeldspielerin, die 2012 mit den USA Olympia-Gold gewann, spielt seit Januar für das französischen Vorzeigeteam, das in London sein drittes Champions-League-Finale in Serie gewinnen kann.
DFB-Pokalfinale der Frauen:Wolfsburg zittert sich zum Double
Gegen Turbine Potsdam bieten die Wolfsburgerinnen vor allem in der ersten Hälfte eine starke Leistung und führen kurz nach der Pause schnell mit 3:0. Doch die Potsdamerinnen kämpfen sich binnen fünf Minuten auf 3:2 zurück, setzen die deutschen Meisterinnen gehörig unter Druck - und scheitern schließlich doch.
Rapinoe hatte nach dem olympischen Turnier viele gut dotierte Angebote vorliegen, die technisch beschlagene und zweikampfstarke 27-Jährige ist eine der begehrtesten Spielerinnen weltweit. Dass Rapinoe sich schließlich für Lyon entschied, hat einen einfachen Grund: "Was hier passiert, gehört zum Besten und Spannendsten, was es im Frauenfußball gibt. Ich wäre schön doof, wenn ich da nicht dabei sein wollte. Und bislang kann ich nur sagen: Es hat sich gelohnt. Die Stadt lebt für diesen Klub, und wir Fußballerinnen sind ein anerkannter Teil davon. Das habe ich woanders noch nicht erlebt."
Erst 2004 hatte sich Olympique die Frauenfußball-Abteilung des FC Lyon einverleibt, das Ziel war von Anfang, dem großen Paris auch mit den Frauen die Stirn zu bieten, was schnell gelang. Lyons Fußballerinnen erhielten eine hervorragende Infrastruktur und Organisation, hochklassige Personalien folgten. Seit der frühere Fußballprofi Patrice Lair 2010 den Trainerposten übernahm, ist Olympique von einer guten zu einer dominanten Mannschaft geworden. Seit 95 Pflichtspielen haben Lyons Frauen nicht mehr verloren, in der nationalen Liga stehen sie drei Spieltage vor dem Saisonende nach 19 Siegen in 19 Partien und einem Torverhältnis von 114:5 erneut vor dem Titelgewinn. "Patrice, unser Trainer, macht einen sehr guten Job", sagt Rapinoe, "er lässt nie zu, dass wir denken: ,Oh, wir sind einfach so gut.' Er will immer das Beste aus uns herausholen."
Lair hat diese leidenschaftliche Einstellung zum Fußball in Ruanda gefunden, dessen Nationalteam er vor seinem Engagement im Frauenfußball für kurze Zeit trainierte. Niemand wusste dort, was am nächsten Tag ist, wertvoller noch als Titel waren dort die sichtbaren Entwicklungen und die Momente, in denen etwas gelingt. Tag für Tag arbeitet Lair seitdem an diesen Momenten, und auch seine Mannschaft, die zum Großteil aus der Stammachse der französischen Nationalelf besteht, hat Spaß daran, sich trotz aller Erfolge stetig weiterzuentwickeln. Die Titel sind nur die logische Folge davon.
Allen voran Lotta Schelin, die personifizierte Torgefahr des Titelverteidigers, hat ihr Talent in Lyon auf ein neues Niveau gehoben. 136 Tore in bislang 134 Spielen hat die schwedische Nationalstürmerin für Olympique geschossen. Erst vergangene Woche verlängerte die 29-Jährige, die seit 2008 in Frankreich spielt, für weitere drei Jahre in Lyon. "Ich bin glücklich hier und wüsste nicht, warum ich wechseln sollte", sagte Schelin.
In London wird ihr Conny Pohlers gegenüberstehen, die mit 34 Jahren nicht nur eine der Erfahrensten, sondern auch die Älteste im Kader des VfL Wolfsburg ist. Mit bisher acht Treffern in dieser Champions-League-Saison streitet sie sich mit Schelin (bislang sieben Tore) im Finale auch um die europäische Torjägerkrone. Daran denkt die gebürtige Sächsin aber nicht, denn sie weiß: Ein Sieg gegen Lyon an diesem Donnerstag, durch ein Tor von wem auch immer, wäre eine kleine Sensation. "Egal, wie es ausgeht, wir können jedenfalls definitiv erhobenen Hauptes vom Feld gehen", sagt Pohlers. "Denn auch, wenn es nicht klappen sollte, haben wir in diesem Jahr richtig viel erreicht."
Mythos Wembley-Stadion:Kathedrale des Fußballs
Hier fiel das umstrittenste Tor der Fußballhistorie, die Löwen hatten ihren Auftritt - und einmal war ein Schimmel Protagonist: Oft wurde im Londoner Wembley-Stadion Geschichte geschrieben - am Samstag ist es wieder so weit.
Das hat auch Lyons Trainer Lair registriert: "Was ich von außen verfolgen kann, ist, dass sie da in Wolfsburg ein interessantes Projekt haben." Die Arbeit von Trainer Ralf Kellermann, der auf Verena Faißt (Pfeiffersches Drüsenfieber), Selina Wagner (Knie) und möglicherweise auf Alexandra Popp (Knöchel) verzichten muss, hat internationales Interesse geweckt. Silvia Neid sagt: "Wenn Lyon einen guten Tag hat, ist Wolfsburg auf Augenhöhe. Wenn Lyon einen sehr guten Tag hat, wird es schwer." Sehenswert wird es allemal.