Champions League: FC Schalke 04:Schalke, neu erfunden

Mit kleinen Änderungen hat Ralf Rangnick den FC Schalke 04 komplett verändert. Beim irrwitzigen 5:2 bei Inter Mailand zerlegen Spieler wie Edu oder Papadopoulos den Titelverteidiger.

Thomas Hummel

Nach dem phänomenalen Triumph sprach der Trainer ungewöhnlich deutlich aus, wie er und seine Mannschaft des Gegners Schwächen schon vorher aufgedeckt hatten. "Wir wussten, dass sie eine zweigeteilte Mannschaft sind", erklärte er und das einige Offensivkräfte "nicht gerne nach hinten arbeiten". Zudem habe er seiner Mannschaft gesagt, sie sei jünger und schneller und könne ein viel höheres Tempo gehen.

Die Berichterstatter aus aller Welt schrieben eifrig mit, und waren auch ein bisschen dankbar, dass ihnen jemand das Unerklärliche erklärte. Deutschland hatte Argentinien mit 4:0 vom Rasen des Green-Point-Stadions in Kapstadt und aus der WM gefegt. Bundestrainer Joachim Löw legte danach mit seiner unaufgeregten Art dar, wie er und seine Mitarbeiter den Erfolg geplant hatten. Löw gilt der Fußballwelt seither als Mastermind, wie man einen Gegner mit chirurgischer Präzision fachgeregt auseinandernimmt.

Ralf Rangnick stand am späten Dienstagabend im Studio des Fernsehsenders Sky, der Moderator sprach von neu geschriebener "Fußballgeschichte" und wollte vom Trainer des FC Schalke 04 wissen, ob man so was planen kann. Rangnick hat dann kurz mit sich gerungen, er weiß um sein Image des altklugen Professors in der Fußballbranche. Doch er gab dann doch ein paar Planungen preis. Es war einfach zu offensichtlich, dass dieses irrwitzige 5:2 im Champions-League-Viertelfinale bei Inter Mailand nicht nur irgendwelchen Zufällen und göttlichen Weisungen geschuldet war.

Er und seine Mitarbeiter haben also das Inter-0:3 vom Wochenende gegen den AC Mailand gesehen und beobachtet, dass Inter kaum Druck auf den Ballführenden ausübe. Weshalb er auf die Idee gekommen sei, José Manuel Jurado ins defensive Mittelfeld zu versetzen, "um ein spielerisches Element mehr zu haben bei eigenem Ballbesitz". Auch dadurch stellte Rangnick seine Elf sehr offensiv auf, weil er fand, dass "wir mehr über eigene Aktionen kommen wollten".

Jurados neue Aufgabe war einer von mehreren Bausteinen, die den phänomenalen Triumph des FC Schalke 04 ermöglichten. Der 24-jährige Spanier spielte unter Rangnicks Vorgänger Felix Magath eine Planstelle weiter vorne und wurde dort zu Recht dafür kritisiert, den Ball zu lange zu halten und seine Privatkreisel zu drehen. Nun wurde aus der Schwäche eine Stärke, Jurado beruhigte in der Zentrale ungestört das Spiel und leitete die Angriffe klug ein. Es war sein mit Abstand bestes Spiel für Schalke. Und damit war er nicht der Einzige.

Von Edu zum Beispiel war bislang bekannt, dass er mit seinem mächtigen Körper und der mittelprächtigen Technik eher unbeholfen die Außenbahnen entlangrannte. Rangnick stellte den Brasilianer nun in die Sturmmitte, wo er plötzlich wuchtig und unwiderstehlich daherkam. Und zwei Tore erzielte. Oder Kyriakos Papadopoulos. Der 19-Jährige blieb bislang als stürmischer, hektischer Innenverteidiger in Erinnerung, bisweilen an der Grenze zum übermotivierten Foulspieler. In Mailand nun beackerte er das defensive Mittelfeld quasi im Alleingang und wirkte dabei mit Übersicht und Zweikampfstärke, wie das selbst größte Fürsprecher nie für möglich gehalten hätten.

Inter läuft elf Kilometer weniger

Oder Joel Matip, der in der Innenverteidigung den kurzfristig ausgefallenen Christoph Metzelder ersetzte. Oder Alexander Baumjohann, den Magath noch in die Reserve degradierte, und der nun links vorne seine wunderbare Technik und seinen Blick für den Pass in die Spitze zeigte.

Natürlich war dieser königsblaue Abend im Stadion San Siro auch möglich, weil die Inter-Abwehr nicht mehr die Mauer des Vorjahres war mit Walter Samuel und Lucio (beide verletzt). Weil die Mailänder inzwischen schnell müde werden und elf Kilometer weniger liefen als der Gegner. Weil Trainer Leonardo den zynischen Ergebnisfußball von Vorgänger José Mourinho durch einen offensiven Erlebnisfußball ersetzen will und die Mannschaft dadurch die Statik verlor. Da half dem Titelverteidiger auch das unfassliche 1:0 durch Dejan Stankovic nach 26 Sekunden nichts, als dieser einen von Torwart Manuel Neuer per Kopf abgewehrten Ball volley aus 51 Metern ins Tor wuchtete.

Unvorstellbar auch deshalb, dass Inter Mailand am kommenden Mittwoch beim Rückspiel etwa mit 4:0 siegen und Schalke noch die erste Teilnahme am Champions-League-Halbfinale streitig machen könnte. Dennoch darf Ralf Rangnick für sich beanspruchen, mit ein paar kleinen Änderungen binnen zwei Wochen fast eine neue Schalker Mannschaft erfunden zu haben.

Der 52-Jährige und sein Ko-Trainer Markus Gisdohl saßen am Spielfeldrand, beide mit schicken Gelehrten-Brillen. Gisdohl, der mit seinen halblangen, zurückgekämmten Haaren an einen Literatur-Doktoranden erinnert, immer mit Stift und Zettel. Die mitunter archaisch-männliche Fußballgemeinde nutzt solches Auftreten gerne, um einen Mangel an Emotion und Herz zu beklagen, das kühle Professoren-Image zu bedienen. Rangnick und Gisdohl dürften damit vorerst nicht weiter belangt werden. Er ist mit diesem Spiel eher in die Löw'sche Mastermind-Kategorie aufgestiegen.

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