FC Liverpool:"Klopp gehen die Wunder aus"

Liverpool FC v Atletico Madrid - UEFA Champions League Round of 16: Second Leg

Jürgen Klopp: Hoher Puls gegen Atlético

(Foto: Getty Images)

Von Sven Haist, Liverpool

Was sonst hätte den FC Liverpool besser aus der Champions League verabschieden können als "You'll never walk alone"? Mit letzter Stimme mühten sich die eigenen Fans am Spielende, diese unverwechselbare Vereinshymne noch mal zu singen, aber diesmal verstummte sie schon nach wenigen Liedzeilen. Die Leute auf den Tribünen wollten jetzt lieber still für sich innehalten - unterm Nachthimmel mit fast Vollmond! In dieser seltenen Ruhe an der Anfield Road haben sich die Menschen, die Liverpool die Daumen drücken, vermutlich an diesem Mittwochabend zurückerinnert an die jüngsten Sternstunden ihres Klubs mit dem deutschen Trainer Jürgen Klopp im Europapokal. An die beeindruckenden Heimsiege über Manchester City und die AS Roma vor zwei Jahren, und natürlich an die Mutter aller Fußballwunder, die unnachahmliche Aufholjagd zuhause gegen den FC Barcelona im Halbfinale der Vorsaison (Hinspiel 0:3; Rückspiel 4:0), die den Weg zum begehrten Henkelpott in der Königsklasse ebnete.

Aber den Fans dürfte bei ihrem gemeinsamen Schweigen bewusst geworden sein, dass Anfield halt doch kein Schutzengel ist, auf den immer und ewig Verlass sein würde. Die Reds wirkten in ihrem Achtelfinal-Rückspiel gegen Atlético Madrid lange drückend überlegen, so, als könnten sie die Partie gar nicht verlieren - eine trügerische Fehleinschätzung. Diese sorgte einmal mehr für ein dramatisches Spiel in dieser mythischen Spielstätte am River Mersey, an das sich in Zukunft alle Beteiligten erinnern werden - nur diesmal hätte Liverpool auf das 3:2 nach Verlängerung für Atlético gern verzichtet. Der Guardian titelte recht treffend: "Klopp gehen die Wunder aus".

In der regulären Spielzeit hatte Georginio Wijnaldum (43.) mit seinem Treffer zum 1:0 für Liverpool das 0:1 aus dem Hinspiel in Madrid ausgeglichen. Nach dem zweiten Tor in der Verlängerung durch Roberto Firmino (94.) zum 2:0 geriet das Stadion außer Rand und Band, die Fans wirbelten ihre Schals durch die Luft und verehrten in Dauerschleife ihren Torschützen. Und vermutlich hätte das bis dahin nahezu chancenlose Atlético bald aufgesteckt, wenn Liverpools zweiter Torwart Adrián, der die verletzte Nummer eins Alisson Becker vertrat, nicht drei Minuten später einen zu ihm zurückgepassten Ball nach links statt nach rechts weitergespielt hätte. So landete der Ball direkt beim Gegner und einen Spielzug weiter durch Marcos Llorente im eigenen Tor (97.). Später trafen erneut Llorente (105.+1) und Álvaro Morata (120.+1).

Der Patzer von Adrián setzte Liverpool unter Schock: Erinnerungen kamen hoch an Adriáns Fauxpas in der Vorwoche beim Aus gegen den FC Chelsea im FA Cup. Und natürlich kamen einem auch die zwei kapitalen Fehlgriffe des mittlerweile zu Besiktas Istanbul ausgeliehenen deutschen Torwarts Loris Karius ins Gedächtnis, der Liverpools verlorenes Champions-League-Finale 2018 auf dem Gewissen hat. Seit Sommer 2017 hat kein anderer Verein in diesem Wettbewerb mehr Gegentore nach Aussetzern seiner Torleute hinnehmen müssen als Liverpool. "Adrián ist ein gestandener Mann und wird damit umgehen können. Wir werden ihn keine Sekunde lang beschuldigen", sagte Klopp und bat dabei um einen "respektvollen Umgang" mit seinem 33 Jahre alten Keeper.

Zuletzt ging es von Party zu Party

Seine Kritik zielte stattdessen in jedem Interview auf die destruktive Spielweise seines Gegenübers Diego Simeone, an dessen gewiefter Defensivtaktik sich der Titelverteidiger die Zähne ausbiss. Atletico sei "mit Weltklassespielern gespickt, hat sich aber entschieden zu spielen wie jemand, der um den Klassenerhalt kämpft", sagte Klopp, "es fühlt sich nicht gerecht an. Sie könnten vernünftigen Fußball spielen, aber stehen tief und setzen auf Konter."

Auf dem Platz selbst hatte Klopp keinen Blick übrig für Adrián. Nach Abpfiff lief der Spanier allein übers halbe Spielfeld zu seinen Teamkollegen, am meisten Trost spendete ihm mit Jan Oblak der gegnerische Torhüter, dessen erstklassige Paraden dazu führten, dass der erste Sieg einer Gastmannschaft in Liverpool im Europapokal seit fünfeinhalb Jahren gelang. Die Enttäuschung über das vorzeitige Saisonende auf internationaler Bühne stand Spielern, Trainern sowie Fans nach Abpfiff ins Gesicht geschrieben. Sekundenlang blickte Klopp konsterniert die jubelnden Gästefans an, bevor er den Zuschauern für ihre Unterstützung dankte. Seinen Profis auf dem Platz erging es ähnlich, auch sie wussten nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Woher auch? Lediglich Kapitän Jordan Henderson, Dejan Lovren und Adam Lallana waren ja dabei, als Liverpool zuletzt bei einem Europapokalheimspiel zuhause das Nachsehen hatte.

Nach dem Erreichen der Finals in der Europa League (2016) und Champions League (2018, 2019) scheitert Klopp mit Liverpool nun erstmals vorzeitig in einem europäischen Wettbewerb. "Wir hatten so ziemlich Party nach Party nach Party in der Champions League. Von jetzt an schauen wir sie eben statt sie zu spielen", sagte er - und richtete noch einen Gruß an die Konkurrenz aus: "Wir werden wiederkommen!"

Allerdings ist wegen der globalen Eindämmungsmaßen gegen das Coronavirus nicht mehr gesichert, dass die Champions League überhaupt fortgesetzt wird. In der Premiere League zieht Liverpool an der Tabellenspitze einsam seine Kreise, den Reds fehlen bloß noch zwei Siege zum ersten Meistertitel seit 30 Jahren. Sofern das zweitplatzierte Manchester City am Wochenende verliert, kann Liverpool bereits am Montag beim Stadtnachbarn Everton alles klarmachen - und dann als frühester englischer Meister aller Zeiten die längste Titelparty überhaupt feiern. Sollte bis dahin noch gespielt werden.

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