FC Bayern ohne Lewandowski:Selbst Guardiola nimmt jetzt die Abkürzung

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Es ist vorbei: Der Transfer Robert Lewandowskis (rechts) zum FC Barcelona liest sich wie eine finale Absage an die falsche Neun. (Foto: David Ramos/Getty Images)

Das Duell des FC Bayern mit Robert Lewandowski führt zur großen Frage: Funktioniert der bayerische Weg ohne echten Mittelstürmer? Während die Münchner dieses System erstmals erproben, wickeln dessen Erfinder es schon wieder ab.

Von Christof Kneer

Pep Guardiola hat in seinem Leben so viele Pressekonferenzen gegeben, dass kein Computerprogramm sie zählen kann. Er hat sie in den unterschiedlichsten Sprachen absolviert, er hat Spieler gelobt, die er herausragend findet, und solche, von denen er gar nichts hält. Pathetisch war er auch oft, und alles in allem hat man nie genau gewusst, welcher dieser Pressekonferenz-Peps jetzt der echte Pep war und welcher der Pep, den man nur für den echten halten sollte.

In diesem Sinne ist die spektakuläre Veranstaltung aus der vorigen Woche viel zu wenig gewürdigt worden. Guardiola, der Trainer von Manchester City, saß auf einem Pressepodium beim FC Sevilla, seine Elf hatte gerade 4:0 gewonnen, und er sagte Sätze, die er womöglich noch nie gesagt hat. Guardiola sagte: "Ich liebe diese neue Routine in jeder einzelnen Pressekonferenz, in der ich über Erling und seine Tore spreche. Aber es sind nicht nur die beiden Tore von heute, es ist immer so, dass er da ist und man das Gefühl hat, dass er immer mehr Tore schießen könnte."

Pep Guardiola wirkte glücklich, aber vielleicht auch ein wenig irritiert. Wahrscheinlich kam er sich vor wie ein berühmter Forscher, der seit Jahrzehnten dafür bewundert wird, dass er auf verwinkelten Routen ins Ziel findet oder, wenn er das Ziel mal nicht findet, auf erhabene Weise scheitert. Und der jetzt feststellen muss, dass er den ganzen Quatsch auch einfacher hätte haben können. Dass es tatsächlich diese Abkürzung gibt, von der alle immer erzählen.

Es muss gar nicht immer quer-quer-quer, tiki-taka-tuka oder kreisel-kreisel-kreisel sein, bis der Ball (vielleicht) im Tor ist. Es geht auch direkter, zum Beispiel mit einem Zuspiel auf den echten Neuner Erling Haaland.

Heute ahnt man, dass die falsche Neun ein exklusives System für den FC Barcelona von Lionel Messi war

Historisch mag das verkürzt sein, aber Guardiola gilt als Erfinder der falschen Neun - jenes Spielerhybrids, der halb Stürmer, halb sonst was ist und sich manchmal auf vorempfundenen Wegen ins Mittelfeld zurückfallen lässt, um die gegnerischen Verteidiger in ein Dilemma zu stürzen. Folgen sie ihm, räumen sie ihren Platz in der Abwehr und öffnen Räume. Folgen sie ihm nicht, ist er unbewacht und kann von wo auch immer die herrlichsten Dinge anstellen.

Auf diese Weise ist Guardiola mit dem FC Barcelona vor einem Jahrzehnt erfolgreicher gewesen, als das im Fußball eigentlich vorgesehen ist. Ob es für den Fußball insgesamt aber eine gute Idee war, dass sich immer alle am Branchenführer orientieren? Heute ahnt man, dass Guardiolas falsche Neun eine exklusive Ausnahmesituation war - die Rolle spielte der unvergleichliche Messi, und hinter sich wusste er Andrés Iniesta und Xavi Hernández, die mit so viel Gespür fürs Spiel gesegnet sind, dass der Ball manchmal selbst erschrickt. All die Epigonen, die das ohne Messi, Iniesta und Xavi versuchten, mussten immer wieder feststellen, dass man mit diesem Stil mitunter auch die eigene Elf in ein Dilemma stürzt. Weil man da vorne gerne einen anspielen würde und zum Beispiel gerade keinen findet.

"Wir sind vorne meist vier Offensive, die auf allen Positionen spielen können", sagt Bayerns Thomas Müller (rechts). (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Die falsche oder richtige Neun ist das große Thema dieses zweiten Champions-League-Spieltags, der dafür extra zwei Ehemaligentreffen anberaumt hat. Guardiolas Manchester City empfängt mit dem Stürmer Erling Haaland die Borussia aus Dortmund, die Haalands Verlust selbstverständlich spürt - erst recht nach der schweren Erkrankung des Nachfolgers Sébastian Haller, der nun nothalber von Anthony Modeste ersetzt wird. Und der FC Bayern begegnet ohne Robert Lewandowski dem FC Barcelona mit Robert Lewandowski.

Es ist die überwölbende Geschichte dieser Saison, dass es ausgerechnet der Gerd-Müller-Klub aus München zurzeit ohne klassischen Mittelstürmer versucht. In den ersten Spielen sind die Bayern zu Recht gefeiert worden für diesen Ansatz, man meinte den Spielern eine gewisse Befreiung anzusehen. Im Sauseschritt haben sich Sadio Mané, Thomas Müller, Jamal Musiala, Kingsley Coman, Leroy Sané und Serge Gnabry durch die Abwehrreihen kombiniert, und auffällig war, wie solidarisch die Künstler den Ball zum Besserstehenden rübergeschoben haben. Hier schien kein echter Neuner ein Tor für sein Ego zu brauchen, am Ende standen trotzdem sechs oder sieben Tore auf der Anzeigentafel.

Nun aber, nach drei Liga-Unentschieden in Serie und in einer durchaus angespannten Stimmungslage, stellt sich in München doch die Frage, ob es wirklich immer das Tor des Monats mit doppeltem Doppelpass und dreifachem Looping sein muss. Lewandowski reicht manchmal auch das Tor des Tages.

Die Bayern denken offenbar schon an Harry Kane - einen sehr echten Neuner

Thomas Müller, wer sonst, hat die Thematik in der Pressekonferenz vor dem Barcelona-Spiel noch mal bündig zusammengefasst: "Wir sind vorne meist vier Offensive, die auf allen Positionen spielen können. Wenn wir kein gutes Ergebnis liefern, ist das eine Angriffsfläche für Kritik. Aber in den Spielen, in denen wir viele Offensivsituationen hatten, haben wir davon profitiert, dass die Verteidiger nicht genau wussten, wer der Zielspieler ist. Mit diesem Yin und Yang werden wir die nächsten Monate immer wieder konfrontiert werden."

Staunt über den Wert der echten Neun: ManCity-Trainer Pep Guardiola (rechts) mit seinem neuen Wunderstürmer Erling Haaland. (Foto: Nick Potts/PA Images/Imago)

Aber natürlich ahnen sie längst auch in München, dass für immer gültig ist, was Gerd Müllers Spiel einst lehrte: Jede Mannschaft, so schön sie auch spielen mag, braucht an schweren Tagen das einfache Tor. Sonst droht ein Sisyphus-Fußball, der die Künstler irgendwann ermüdet und die Mitspieler unter Druck setzt. Es kann ein Team furchtbar nerven, wenn trotz 1000 Kombinationen das Tor vorne nicht fällt, es macht die Nerven dünn und führt hinten zu Unkonzentriertheiten - die dann, zum Beispiel, in der 92. Minute ein Elfmetertor für den VfB Stuttgart zur Folge haben.

Der Transfer von Lewandowski liest sich fast wie eine finale Botschaft: Es ist vorbei. Zumindest hat der große Xavi als Trainer des FC Barcelona persönlich das Ende der falschen Neun verfügt, flankiert vom Ex-Chef Guardiola, der plötzlich über den Wert der echten Neun Haaland staunt. Natürlich können die Bayern dank der hohen Klasse ihre Stürmer in dieser Saison trotzdem erfolgreich sein, aber gewiss ist auch, dass sie ihren Gerd Müller nicht dauerhaft abwickeln werden. Die vielen falschen Neuner markieren in München keinen Philosophiewechsel, sie sind eher das Produkt eines komplexen Marktes, auf dem im Sommer offenbar keine FC-Bayern-taugliche Neun aufzutreiben war.

Es hält sich weiterhin das Gerücht, die Bayern würden sich für die kommende Saison um den Engländer Harry Kane bewerben, einen sehr echten Neuner. Der würde aber so teuer werden, dass die vielen falschen Bayern-Neuner in dieser Saison schon ein paar entscheidende Champions-League-Tore schießen müssten, um das zu finanzieren.

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