Nach choreografiertem Ritual, so wie er es nach Toren pflegt, hielt sich Jan Vertonghen die Fäuste auf die Brust, um sie dann zur Seite zu strecken. Als würde er einen Vorhang aufziehen: Schaut mich an! Doch die Spieler von Borussia Dortmund schauten weg. Sie waren enttäuscht, und sie hatten vermutlich sowieso schon genug gesehen von Vertonghen. Die Sun bezeichnete den Verteidiger der Tottenham Hotspur später als "Jan, den Mann", aufgrund des dankbaren Namenswortspiels, aber auch wegen seiner nach dem Tor zum 2:0 zur Schau gestellten Statur, die nicht besser zum Ideal des englischen Fußballs passen könnte. Bei seinem Jubel ließ Vertonghen die Muskeln spielen. Wie Tottenham.
Bei der Besetzung der Startformation stellte Mauricio Pochettino als Trainer der Spurs im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen Dortmund im wahrsten Sinne des Wortes seine schlagkräftigste Elf auf. Mit einer Fünferkette (die mehr oder weniger aus fünf Innenverteidigern bestand) und zwei davor postierten Mittelfeldabräumern wartete auf die leichtgewichtigen Überflieger des BVB ein tonnenschwerer Widerstand, den sie in ihren Fußballerleben noch kaum kennengelernt haben dürften - und dem sie dementsprechend nicht wirklich gewachsen waren.
Beim entscheidenden zweiten Gegentreffer probierte Mario Götze in der Funktion des Mittelstürmers den Ball vor dem kraftvollen Davinson Sanchez abzuschirmen. Nach dem Zweikampf landete Götze auf seinem Hintern (und blieb erst mal sitzen), der Ball jedoch landete nach einer Flanke sieben Sekunden später durch Vertonghen im Tor. Das riss dem BVB sieben Minuten vor Spielende den Boden unter den Füßen weg: "Wir können nicht dagegenhalten. Wir setzen uns zu wenig durch und müssen rigoroser verteidigen", klagte Borussia-Torwart Roman Bürki.
Beim 3:0 für Tottenham sind dem Tabellenführer der Bundesliga am Mittwochabend in London erstmals richtig die Flügel gestutzt beziehungsweise, wie man in Dortmund gerade sagen würde, die Haare rasiert worden. Am Tag nach dem ersten verlorenen K.-o.-Spiel einer deutschen Mannschaft in England seit acht Jahren kam nämlich über die Bild-Zeitung heraus, dass ein jamaikanischer Starfriseur vor dem Spiel ein Zimmer im Mannschaftshotel des BVB auf Anfrage der Spieler zu einem Salon umgebaut hatte, um deren Haare schön zu machen. Das rief Unmut bei Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke hervor, der ankündigte, die sportlichen Verantwortungsträger Michael Zorc und Sebastian Kehl würden sich dem Thema widmen. Nicht ohne selber auszurichten: "Dass die Niederlage dazu führt, dass ein Friseurbesuch medial kritischer betrachtet wird, ist klar. Ein Haarschnitt hat dennoch selbstverständlich keinerlei Einfluss auf die Mannschaft."
Der haarige Vorfall gibt aber wohl die gegenwärtige Spielweise im Team wieder, die Aussehen vor den Nutzen stellt. Ganz im Gegensatz zu Tottenham, das bereit war, sich schmutzig zu machen, weil für die Spurs das Ergebnis deutlich mehr zu zählen schien als das Spiel fürs Auge. Beim richtungsweisenden ersten Treffer für Tottenham durch Heung-min Son, der mit nun neun Toren gegen keinen Klub häufiger getroffen hat als gegen den BVB, versuchte Rechtsverteidiger Achraf Hakimi zwei Minuten nach der Halbzeit am eigenen Strafraum, mit einem Beinschuss den belgischen Nationalspieler Vertonghen vorzuführen.
Der Ball ging prompt an Vertonghen verloren, dessen Retourkutsche für Hakimi eine Flanke für Son vorsah - und später eben seinen eigenen Treffer, bei dem er sich wieder gegen Hakimi behauptete. Als Erster verschwand der 20 Jahre alte Marokkaner im Bus der Dortmunder, wohl in der Hoffnung, an diesem Abend nicht mehr gesehen zu werden. Die Lehre aus der Begegnung mit Vertonghen wird sein, dass Hakimi beide Fehler eher nicht noch mal machen wird, wenn der Viertelfinal-Einzug in der Champions League auf dem Spiel steht, aber das hilft dem BVB halt erst in Zukunft weiter, nicht jetzt.
Innerhalb von zwölf Tagen hat Borussia Dortmund durch zwei unnötige Unentschieden einen möglichen Vorsprung von neun Punkten auf den FC Bayern an der Tabellenspitze der Bundesliga vergeben, den Einzug ins Viertelfinale des DFB-Pokals in der Schlussminute der Verlängerung verspielt - und nun aller Voraussicht nach das Fortkommen in der Champions League. Das Resultat lässt dem BVB auf Basis der historischen Vergleichsergebnisse in der Königsklasse lediglich eine sechsprozentige Restchance fürs Rückspiel in drei Wochen. "Das ist eine schmerzhafte Niederlage, an der wir ein bisschen knabbern werden", sagte Lizenzspielerchef Kehl an seinem 39. Geburtstag. Einige Spieler seien untergetaucht und hätten sich so ein bisschen ergeben, fand er.
Seit vier Spielen wartet die Borussia auf einen Sieg, in den vergangenen drei Partien gab es jeweils drei Gegentore. Die Tendenz des Teams, sich zu sehr selbst zu gefallen, fing zu Monatsbeginn bei Eintracht Frankfurt an. Damals vergaben die Dortmunder in Führung liegend mehrere hochkarätige Torchancen, bei denen ein Schuss in den Winkel für die Spieler gefühlt mehr wert gewesen wäre als das simple Überqueren der Torlinie. Die fehlende Resistenz innerhalb der Mannschaft dürfte Trainer Lucien Favre beschäftigt haben. Mit der Hereinnahme des 29 Jahre alten Ömer Toprak in die Abwehrzentrale und der Anordnung des Innenverteidigers Dan-Axel Zagadou links hinten wollte er sein Team offenbar festigen. In der Schlussphase, beim Stand von 0:1, riss er seine einigermaßen funktionierende Viererkette dann aber auseinander, indem er Marcel Schmelzer für den angeschlagenen Zagadou einwechselte. Schmelzer machte sich prompt am dritten Gegentor durch Fernando Llorente mitschuldig. Nach Hakimi suchte Schmelzer als zweiter Spieler des BVB den Bus auf.
Ein tröstlicher Gedanke blieb: Die Fehler, die dem BVB unterliefen, sind abzustellen. Die Spurs, zum Beispiel, haben in der Vorsaison ganz ähnliche gemacht.