Süddeutsche Zeitung

FC Chelsea:Frank Lampard und sein Fußballkindergarten

Lesezeit: 3 min

Von Sven Haist, London

Für die romantische Seite des Fußballs schien Roman Abramowitsch nie sonderlich viel übrig zu haben. Seitdem er 2003 als erster russischer Oligarch in der Premier League den FC Chelsea zu seinem Eigentum machte, liegt die Verweildauer der bisherigen 13 Cheftrainer des Vereins - darunter José Mourinho, Carlo Ancelotti oder Antonio Conte - bei lediglich 437 Tagen. Für diese Hire-&-Fire-Politik musste der Klub mehr als 100 Millionen Euro für Abfindungen bezahlen.

In der Bilanz kann Abramowitsch, 53, der sich für sein kompromissloses Handeln mindestens genauso einen Namen gemacht hat wie für sein Milliardenvermögen, 18 Trophäen dagegen rechnen. Und einzig der Erfolg ist ja das, was bei ihm stets an vorderster Stelle stand. Bis ihn eine von der Fifa auferlegte Transfersperre vor einem Jahr wegen Verstößen bei der Verpflichtung von Minderjährigen zu einem Kurswechsel animierte.

Im Gegensatz zu den herkömmlichen Einstellungskriterien (Erfahrung, Reputation, Erfolge) eines Chelsea-Trainers unter Abramowitsch wurde für Klub-Ikone Frank Lampard eine Ausnahme gemacht. Lampard könnte die Kriterien zwar mit 211 Treffern in 648 Partien als Rekordtorschütze des Klubs erfüllen, aber noch nicht als Coach an der Seitenlinie: Auf seiner einzigen Trainerstation vor Chelsea verpasste Lampard in der Vorsaison knapp den Aufstieg mit Derby County. Beim Zweitligisten stellte "Super Frankie", wie die Fans der Blues den früheren Musterprofi voller Verehrung nennen, allerdings innerhalb einer Spielzeit unter Beweis, dass er eine ambitionierte Mannschaft mit jungen Spielern auf die Beine stellen kann - und empfahl sich dadurch für das aus der Not geborene Konzept seines langjährigen Klubs, die Profimannschaft in dieser Saison vermehrt mit hauseigenen Talenten auszustatten.

Im Dezember wurde die Transfersperre aufgehoben

Nach den Weggängen der Starspieler Eden Hazard (Real Madrid) und David Luiz (FC Arsenal) stehen im aktuellen Kader mit Andreas Christensen (23/Abwehr), Fikayo Tomori (22/Abwehr), Reece James (20/Abwehr), Mason Mount (21/Mittelfeld), Billy Gilmour (18/Mittelfeld), Ruben Loftus-Cheek (24/Mittelfeld), Callum Hudson-Odoi (19/Sturm) und Tammy Abraham (22/Sturm) gleich acht Spieler aus der Akademie, die bei den Profis regelmäßig zum Einsatz kommen. Keiner hat sein 25. Lebensjahr hinter sich.

Auch Lampard, Betreuer und Inspirator dieses Fußballkindergartens, ist erst 41 Jahre alt. Lampard soll die Zusage zu diesem Projekt erst gegeben haben, als Abramowitsch garantierte, die Arbeit des Trainers zunächst mal nicht an Ergebnissen und Titeln zu messen. Nun wurde die Transfersperre im Dezember zwar aufgehoben. Aber in der Premier League gilt Chelsea mit seinen begabten, unerfahrenen Talenten immer noch als Versuchslabor für andere Topvereine, die sich im Erfolgsfall in Zukunft womöglich an diesem Modell orientieren würden.

Begünstigt von Tatendrang und Euphorie in der Hinrunde hat Chelsea erstaunlich schnell Fuß gefasst in der Liga und sich eine respektable Ausgangslage geschaffen für die erneute Teilnahme an der Champions League. Das 2:1 über Tottenham am vergangenen Samstag hat den vierten Tabellenplatz erst mal gefestigt. Im Duell mit dem FC Bayern stellen sich die Youngsters am Dienstagabend im Achtelfinale der Königsklasse nun erstmals der großen internationalen Öffentlichkeit vor - und spielen indirekt auch um ihre Zukunft.

Kürzlich hat sich der Klub für die kommende Saison bereits die Dienste des marokkanischen Offensivspielers Hakim Ziyech von Ajax Amsterdam für 40 Millionen Euro gesichert. Ob Chelsea seinen Talenten weitere teure Spieler vor die Nase setzt, hängt wohl unmittelbar damit zusammen, wie gut das Team imstande sein wird, mit dem Bundesliga-Tabellenführer mitzuhalten.

In den zurückliegenden Wochen hat die junge Mannschaft ihre erste Formkrise erlitten. Der zu Beginn der Saison überragende Mittelstürmer Abraham musste zuletzt trotz 13 Treffern in der Premier League für den Routinier Olivier Giroud auf die Bank, dazu fällt es Spielmacher Mount nach seinen zehn Torbeteiligungen gerade schwer, das Niveau zu halten. Am schlimmsten hat es jedoch Kepa Arrizabalaga, 25, erwischt: Der teuerste Torwart der Welt hat zu Monatsbeginn seinen Platz an Willy Caballero, 38, abtreten müssen. Nicht richtig in Fahrt kommt derweil der vor einem Jahr vom FC Bayern heftig umworbene Flügelangreifer Hudson-Odoi. Nach seinem Achillessehnenriss trat er noch kaum in Erscheinung, sein Einsatz gegen die Münchner ist wegen Oberschenkelproblemen fraglich. Definitiv ausfallen wird Mittelfeldspieler N'Golo Kanté.

Dass die Talente zwischenzeitlich so unbekümmert aufspielten, soll bei Abramowitsch aber dem Vernehmen nach die vorübergehend abgekühlte Liebe zu seinem Klub wieder neu entfacht haben. Nach einem Disput mit der britischen Regierung um sein Arbeitsvisum auf der Insel vor anderthalb Jahren hat er sich nicht mehr an der heimischen Stamford Bridge blicken lassen - und über ein Klubstatement den Umbau des sanierungsbedürftigen Stadions mit dem Verweis auf ein "ungünstiges Investitionsklima" verschieben lassen.

Das Problem: Ohne finanziellen Zuschuss von Abramowitsch kann Chelsea das Projekt nicht stemmen, und Ende März läuft die lang erkämpfte Baugenehmigung ab. Bis dahin muss mindestens ein genauer Zeitplan für die Umsetzung vorgelegt werden. Immerhin scheint ein Verkauf des Klubs vom Tisch zu sein - Roman Abramowitsch hat alle Angebote abgelehnt.

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SZ vom 25.02.2020
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