Süddeutsche Zeitung

Champions League:Chelseas letztes Aufgebot in München

Trainer Lampard steht inmitten einer Debatte, ob er den FC Chelsea zu stark belastet. Für die erhoffte Aufholjagd im Achtelfinal-Rückspiel beim FC Bayern fehlt ihm noch eine Mannschaft.

Von Sven Haist, London

Normalerweise würde sich der FC Chelsea wie die meisten anderen englischen Klubs bereits im erholsamen Sommerurlaub befinden. Dem Verein wäre das nach 54 Pflichtspielen in der mittlerweile ein volles Kalenderjahr dauernden Saison auch sehr recht gewesen - vor allem nach der ernüchternden 1:2-Finalniederlage am Samstag im FA Cup gegen den Londoner Stadtrivalen FC Arsenal.

Mit letzter Kraft hatte sich Chelsea zuvor schon auf den vierten Tabellenplatz in der Premier League gerettet, der soeben noch die erneute Teilnahme an der Champions League garantiert. Allerdings muss Chelsea zum vermutlichen Abschlussball dieser Saison am Samstag noch beim FC Bayern in München antanzen. Dieses Achtelfinal-Rückspiel in der Königsklasse gleicht für die Blues nun fast schon einer Kaffeefahrt, denn nach dem 0:3 im Hinspiel bietet der Ausflug kaum mehr echte sportliche Chancen.

Timo Werner ist noch nicht spielberechtigt

Zum Start der Vorbereitung aufs Duell mit dem deutschen Rekordmeister musste Trainer Frank Lampard zu Wochenbeginn erst einmal seine Spieler durchzählen, um sicherzustellen, dass überhaupt genügend Profis für eine Elf zur Verfügung stehen. Auf die Abwesenheitsliste gesellten sich neben den länger verletzten Ruben Loftus-Cheek (Achillessehne) und Billy Gilmour (Knie) kürzlich auch Willian (Schlag auf den Knöchel) und N'Golo Kanté (Oberschenkel).

Im Spiel gegen Arsenal mussten Kapitän Cesar Azpilicueta und Christian Pulisic jeweils mit Oberschenkelproblemen ausgewechselt werden, in der Nachspielzeit kugelte sich Pedro die Schulter aus - und weil Lampard nicht mehr tauschen konnte und Mateo Kovacic zuvor die gelb-rote Karte erhalten hatte, sah Chelsea mit nur acht Feldspielern am Ende aus wie ein zerrupftes Huhn. Für die Reise nach München prophezeit das medizinische Update vom Dienstag nur Willian und Kanté eine Einsatzchance. Der aus Leipzig verpflichtete deutsche Nationalstürmer Timo Werner ist noch nicht spielberechtigt.

Aus dem plötzlich auftretenden hohen Verschleiß an Spielern hat sich im Reich des Klubeigentümers und Oligarchen Roman Abramowitsch eine unliebsame Fitnessdebatte entwickelt, die auf die Autorität des Trainers abzielt. Hinter vorgehaltener Hand wird geraunt, dass die intensiven Trainingseinheiten unter Lampard zur Müdigkeit der Profis geführt hätten. In seiner zweiten Saison als Trainer, der ersten in der Premier League nach seinen Anfängen beim Zweitligisten Derby County, schiebt Lampard, 42, die Ursache der Misere dagegen aufs immense Spielpensum seiner Mannschaft: "Die Spieler brauchen eine Pause. Das ist der Grund für die zwei Oberschenkelblessuren, und dass einige Spieler schon vor der Partie passen mussten."

Lampard war selbstverständlich nicht entgangen, dass sein junges Team nach der Führung gegen Arsenal entkräftet wirkte. Seit Wiederaufnahme des Fußballbetriebs im Juni hat Chelsea elf Spiele innerhalb von 35 Tagen bestreiten müssen, ehe es knapp eine Woche gab, um sich fürs Pokalfinale präparieren zu können. Zwar erhielten die Spieler während des Lockdowns die Erlaubnis, die Zeit bei den Familien in ihrer Heimat verbringen zu dürfen, aber von Urlaub konnte in dieser Phase nicht die Rede sein. Und die neue Ligasaison, die am 12. September gestartet wird, zeichnet sich schon am Horizont ab.

Der Unmut über die Personallage gipfelte bei Lampard in einer Attacke auf die Premier League. "Ich würde gern denken, dass die Liga sich ernsthaft damit befasst, uns einen fairen Start in die neue Saison zu ermöglichen. Wir verdienen das als Premier-League-Verein, der in der Champions League spielt", schimpfte er. Dabei haben sich die Klubs in England eigentlich darauf verständigt, den international vertretenen Teams zwischen der letzten Partie und dem Start der neuen Saison am zweiten September-Wochenende mindestens 30 Tage zur Regeneration einzuräumen.

Eine Verschiebung des Zeitplans nach hinten ist fast unmöglich, weil die Taktung mit 38 Ligaspielen, zwei Pokalwettbewerben und der angehängten Europameisterschaft 2021 keinen Spielraum bietet. Einzig bei einem Erreichen des Finalturniers in Lissabon, wofür Chelsea mindestens drei Tore mehr schießen muss als Bayern, würde das erste Ligaspiel der Blues verlegt werden, weil die Erholungsfrist dann unter den vereinbarten 30 Tagen liegen würde. Ein Szenario, mit dem sich niemand beschäftigt, weil bei Chelsea eher die Sorge überwiegt, in München eine Abfuhr mit mehreren Gegentoren zu kassieren.

Eigentlich muss Chelseas Abwehr gewartet werden

Ohnehin hat Chelsea gerade Wichtigeres zu tun, als über ein Weiterkommen zu fabulieren. Nach 54 Gegentoren in der Premier League - ebenso viele wie der Tabellen-15. Brighton - und den eklatanten Defensivfehlern im Duell mit Arsenal scheint den Verantwortlichen im Klub aufgefallen zu sein, dass die vom deutschen Nationalspieler Antonio Rüdiger angeführte Abwehr viel dringender gewartet werden muss als die Offensive. "Die Zahlen lügen nicht. Einige individuelle Fehler, die wir machen, klare individuelle Fehler, manche davon im Finale, die uns eindeutig Tore kosten, dürfen nicht passieren, wenn man vorankommen will", klagte Lampard.

Bisher hat sich Chelsea mit Werner sowie Regisseur Hakim Ziyech von Ajax Amsterdam für insgesamt knapp 100 Millionen Euro nur im Angriff neu eingedeckt - und Senkrechtstarter Kai Havertz soll von Bayer Leverkusen auch noch kommen. Wobei sich der Bedarf an einem Torwart, einem Innen- und Außenverteidiger als erheblich akuter erweist. Die Zeit drängt: Dem Vernehmen nach arbeitet Chelsea an den kostspieligen Transfers von Leicester Citys Linksverteidiger Ben Chilwell, 23, und West Hams Abwehrchef Declan Rice, 21, der in der Jugend schon mal für die Blues spielte.

Zur Finanzierung der Neuen sollen einige Profis zum Verkauf stehen, darunter Kepa, 25, der einst für 80 Millionen Euro aus Bilbao geholte teuerste Torwart der Welt, dessen Fähigkeiten bei Chelsea nach zwei Jahren keiner mehr vertraut. In den jüngsten beiden, für den Verein sehr wichtigen Spielen stand der 38 Jahre alte Willy Caballero zwischen den Pfosten.

In diese Gemengelage fällt nun die Reise nach München, auf die beim FC Chelsea niemand wirklich Lust hat - die aber absolviert werden muss, um endlich, endlich Urlaub zu haben.

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Quelle:
SZ vom 05.08.2020/jbe
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