Champions-League-Achtelfinale in Dortmund:Raumfahrer in der Torjäger-Lücke

Lesezeit: 3 min

Immer im Einsatz: Chelsea-Stürmer Kai Havertz gegen West-Ham-Torhüter Lukasz Fabianski. (Foto: Julian Finney/Getty Images)

Der FC Chelsea tritt sportlich auf der Stelle und kauft ständig neues, sehr teures Personal. Nur einer spielt fast immer: Kai Havertz. Aktuell soll es der vielseitige Deutsche ganz vorne richten, denn ein überzeugender Neuner fehlt im Kader.

Von Sven Haist, London

Mittlerweile gibt es nicht mehr allzu viele Spieler beim Chelsea Football Club, die länger im Verein sind als Kai Havertz. Als bisher teuerster deutscher Spieler wechselte der gebürtige Aachener im September 2020 von Bayer Leverkusen nach London, die Ablöse wurde auf 80 Millionen Euro plus Bonuszahlungen taxiert. Obwohl der Transfer erst zweieinhalb Jahre her ist, hat Chelsea für seine damals schon stattliche Offensive seither sieben weitere Profis verpflichtet - für insgesamt rund 300 Millionen Euro. Aufgrund der internen Konkurrenz verloren etliche etablierte Angreifer ihren Stammplatz und verließen mangels Perspektive den Klub: Timo Werner, Tammy Abraham, Michy Batshuayi, Olivier Giroud, Romelu Lukaku und Callum Hudson-Odoi. Nur einer hat seinen Stellenwert stets verteidigen und zuletzt sogar noch ausbauen können: Kai Havertz.

Wie in den Jahren zuvor - bei den ehemaligen Chelsea-Trainern Frank Lampard und Thomas Tuchel - ist Havertz auch unter Graham Potter ein substanzieller Bestandteil des Teams. In dieser Saison kommt er bei Chelsea auf die zweitmeisten Einsatzminuten in der Premier League. Schon jetzt, mit erst 23 Jahren, hat er 121 Pflichtspiele für die Londoner absolviert, dabei gelangen ihm 29 Tore und 15 Vorlagen. Seit der WM stand Havertz nun sogar in allen neun Pflichtspielen in der Startelf. Die Grundlage für diese Bilanz ist wohl seine Gabe, erstaunlich vielseitig zu sein. Fast jeder Trainer hat ihn bisher auf einer anderen Position verortet - keiner lag damit jemals falsch.

Champions League
:Symbolfigur des Dortmunder Aufschwungs

Bisher konnte Emre Can beim BVB die hohen Erwartungen selten erfüllen. Doch nun bringt er seit Wochen die erhoffte Dynamik und Mentalität im zentralen Mittelfeld ein. Gegen den FC Chelsea wird sich zeigen, wie stabil dieser Trend ist.

Von Ulrich Hartmann

Wie nur sehr wenige Spieler auf Spitzenniveau, hat Havertz praktisch jede Offensivposition vergleichbar gut im Programm: Er kann ebenso im Mittelfeld agieren wie als Spielmacher oder im Angriff, als einziger Stürmer oder an der Seite eines Sturmpartners. Selbst auf der linken und rechten Außenbahn hatte er einst in Leverkusen sein Potenzial nachgewiesen.

So richtig scheint Havertz selbst nicht zu wissen, welche Rolle am besten zu ihm passt - weil er über so viele verschiedene Facetten verfügt. Er kann Tore schießen, vorbereiten und einleiten, er hat eine geschmeidige Ballbehandlung, einen ordentlichen Kopfball, einen flotten Antritt und ein beachtliches Spielverständnis. Durch seine Größe, 1,93 Meter, ist er zudem in der Lage, den Ball für seine Mitspieler abzuschirmen. Und er ist sich auch nicht zu schade dafür, als Offensivkraft in jedem Spiel erstaunlich viel zu laufen und zu sprinten, nach vorne und nach hinten. Seine Fähigkeiten machen ihn quasi zu einem "freien Angreifer". Die Zeitung Times beschrieb Havertz als "space-man", als Raumfahrer, der Chelsea eine neue Dimension gebe.

Das Spiel in Dortmund ist seine erste Rückkehr nach Deutschland mit Chelsea seit dem Wechsel 2020

Seine Variabilität sorgt einerseits dafür, dass er regelmäßig zum Einsatz kommt. Andererseits hat sich Havertz deshalb noch auf keiner Position wirklich festgespielt. Momentan setzt ihn Trainer Potter als Stoßstürmer ein - weil ein verlässlich treffender Neuner im Kader fehlt. Gerade mal 23 Tore hat das seit Monaten sportlich auf der Stelle tretende Chelsea in 22 Liga-Saisonspielen zustande gebracht, fünf davon erzielte Havertz. Diese Ausbeute reicht bereits aus, um die interne Torschützenliste anzuführen. Die Abhängigkeit der Mannschaft von den Treffern des Deutschen ist fast frappierend: Bei vier der vergangenen sechs Ligasiege erzielte Havertz ein Tor, und zwar jeweils den wichtigen Führungstreffer.

Radikalumbau im Winter: Dem Kader von Chelseas Trainer Graham Potter blieb kaum Zeit, sich kennenzulernen und einzuspielen. (Foto: Alastair Grant/AP)

So ruhen Hoffnungen des kriselnden FC Chelsea auch im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League bei Borussia Dortmund (Mittwoch, 21 Uhr) auf Kai Havertz. Für ihn ist es die erste Rückkehr mit dem Klub nach Deutschland seit seinem Abschied. Dass er der persönlichen Verantwortung gewachsen sein kann, zeigen jene entscheidenden Treffer in großen Spielen, die er für Chelsea bereits erzielt hat. Im Champions-League-Finale 2021 und im Endspiel der Klub-WM 2022 schoss Havertz jeweils die Siegtreffer. Dennoch wirkt die hohe Erwartungshaltung an ihn in England aktuell ein bisschen vermessen. Dass Havertz allein Chelsea mit Toren auf Kurs halten soll, dafür sind seine Anlagen nicht ausgereift, vor allem nicht seine Technik beim Torabschluss. Zu viele Chancen lässt er noch ungenutzt.

Havertz definiert sein Stürmerspiel anders als Haaland, Mbappé und Co.

Anders als die Topstürmer seiner Generation, wie Erling Haaland oder Kylian Mbappé, definiert sich Havertz ohnehin mehr über die Teilnahme am Spiel als über Tore. Er wartet nicht nur auf die Gelegenheit, im Strafraum in aussichtsreicher Position an den Ball zu kommen, sondern er versucht, sich ins Kombinationsspiel der Mannschaft einzugliedern, indem er sich immer wieder situativ zurückfallen lässt. Damit entzieht er sich körperlich überlegenen Gegenspielern und schafft Freiraum für Mitspieler.

Allerdings fehlt es hier an der Abstimmung mit den Kollegen. Wegen des Radikalumbaus von Chelseas Kader im Winter blieb kaum Zeit, sich kennenzulernen und einzuspielen. Das Angriffszentrum bleibt derzeit oft verwaist, es mangelt an Präsenz und Durchschlagskraft - wie zuletzt beim 1:1 im Ligaderby gegen West Ham erneut zu sehen war. Weil Chelseas Suche nach einem Torjäger vorerst erfolglos blieb, darf sich Havertz wohl bis auf Weiteres in der Rolle des vordersten Angreifers versuchen. Er stellt sich dieser Herausforderung, wenngleich ihm die Position hinter den Spitzen vermutlich noch besser läge.

Bereits seine Entscheidung, als 20-Jähriger den Schritt ins Ausland zu wagen, zeugte von Mut. Zwar wird Havertz wegen seines zurückhaltenden Auftretens bisweilen unterschätzt, in seinen Vorstellungen wirkt er aber sehr gefestigt und zielstrebig. Irgendwie hat er bisher für sich immer einen Weg gefunden - vielleicht auch jetzt als Mittelstürmer.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFC Bayern in der Champions League
:Ein Tor Vorsprung für 90 Minuten gegen Mbappé

Das 1:0 für den FC Bayern im Hinspiel in Paris bedeutet außer einer guten Ausgangsposition auch einen wichtigen Erfolg für Trainer Julian Nagelsmann. Aber für das Rückspiel braucht er eine neue Idee, um das Viertelfinale zu erreichen.

Von Sebastian Fischer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: