Senol Günes gilt eigentlich als ausgleichender Charakter. So nimmt es der Trainer von Besiktas Istanbul regelmäßig mit väterlicher Gelassenheit hin, wenn ihm Ricardo Quaresma nach einer Auswechslung mal wieder den Handschlag verweigert. Der rätselhafte Portugiese mit den tätowierten Tränen unter dem rechten Auge ist mittlerweile 33 Jahre alt, aber noch immer verletzlich und unberechenbar wie ein Kind.
Am vergangenen Wochenende, im Istanbuler Derby beim verhassten Rivalen Fenerbahce, kassierte Quaresma bei der 1:2-Niederlage schon den sechsten Platzverweis in seiner Zeit in der Türkei. Mit Unterbrechungen geht der ungezügelte Flügelspieler, der wegen seiner Schnelligkeit den Spitznamen "Mustang" trägt, gerade in seine fünfte Saison. Bei Besiktas ist der Europameister der Publikumsliebling; ein Status, den er bei Großklubs wie dem FC Barcelona, Inter Mailand oder dem FC Chelsea nie hatte.
Aber Istanbuler Derbys sind emotionale Ausnahmesituationen, und in denen geht auch schon mal Trainerroutinier Günes die Gelassenheit verloren. Wegen Schiedsrichterbeleidigung wurde er auf die Tribüne geschickt, insgesamt zeigte das Schiedsrichtergespann neun gelbe Karten, je zwei Spieler jedes Teams wurden per Platzverweis vorzeitig zum Duschen geschickt. Neben Quaresma und dem kanadischen Mittelfeldhünen Atiba Hutchinson, 34, sah auf Seiten von Besiktas noch der türkische Internationale Oguzhan Özyakup, 25, nach dem Abpfiff wegen Schiedsrichterbeleidigung im Kabinengang Rot. Während des wilden Spiels flogen Gegenstände von den Tribünen, insgesamt 40 Stadionverbote wurden ausgesprochen, die Offiziellen beider Klubs wiesen sich wie üblich gegenseitig die Schuld für die Eskalation zu.
Der Manipulationsskandal verstärkte die Spannungen
Seit dem Manipulationsskandal von 2011 leidet der türkische Fußball nur noch mehr unter den Konflikten zwischen den Istanbuler Großklubs Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas. Zwar sind mittlerweile wieder Gästefans bei den Derbys zugelassen, nur beim Aufeinandertreffen von Fenerbahce und Trabzonspor ist das nicht möglich. 2011 soll sich Fenerbahce den Meistertitel erkauft haben, noch immer sind Klagen des damaligen Zweiten Trabzonspor anhängig.
Besiktas-Trainer Günes, 65, polarisiert bei Fenerbahce-Fans auch deswegen, weil er eine Trabzonspor-Vergangenheit hat. Am Wochenende coachte er provokant in einem Anzug mit Krawatte in den Vereinsfarben von Trabzon. Günes, ein Trainer, der den offensiven Fußball liebt, führte die Türkei als Nationaltrainer zu ihrem größten Triumph, dem dritten Platz bei der WM 2002. Als Vereinscoach gewann er aber erst in den beiden vergangenen Spielzeiten mit Besiktas seine beiden ersten Landesmeisterschaften.
Durch die zweite Teilnahme an der Champions-League-Gruppenphase in Serie, wo Besiktas an diesem Dienstag auf RB Leipzig trifft, erarbeitete sich der wie die meisten türkischen Top-Klubs hochverschuldete Verein einen Vorteil gegenüber den Rivalen Fenerbahce und Galatasaray, die in diesem Sommer bereits in den Qualifikationsrunden zur Europa League scheiterten.
Die Istanbuler Großklubs zahlen ihren Stars die üppigen Gehälter in Euro oder Dollar, durch die politische Entwicklung in der Türkei erfuhr die türkische Lira einen Verfall. Die meisten türkischen Vereine generieren nur Einnahmen in heimischer Währung, Besiktas jedoch kassierte von der Uefa in der letzten Saison alleine nach dem Ausscheiden aus der Vorrunde der Champions-League-Gruppenphase 30 Millionen - in Euro. Mehr Einnahmen als Besiktas generiert im türkischen Fußball derzeit kein anderer Verein.
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Ein alterndes Team, in dem sich aber bekannte Namen finden
Sportlich fehlen im Team von Günes zwar die Talente, das Durchschnittsalter des Kaders beträgt 28,5 Jahre. Doch die Stammelf ist durchaus furchteinflößend. Zentral in der Viererkette verteidigen der Serbe Dusko Tosic, 32, der einst in Bremen kickte, sowie der im Sommer von Real Madrid geholte Portugiese und Quaresma-Kumpel Pepe, 34. Das in die Jahre gekommene Raubein spielt bislang solide. Und an guten Tagen kann die Offensive die Gegenspieler verrückt machen, nicht nur der zum extravaganten, mitunter sinnfrei trickreichen Spiel neigende Quaresma. Der Niederländer Ryan Babel, 30, einst in Hoffenheim eine Enttäuschung, blüht bei Besiktas wieder auf. Vorne im Sturmzentrum hat derzeit Cenk Tosun, 26, die Nase vor dem spanischen Routinier Alvaro Negredo, 32, der aus Valencia kam.
Die Leipziger müssen sich auf eine hitzige Atmosphäre einstellen. Die Mannschaft, die ihr erstes Gruppenspiel in Porto 3:1 gewann, wird von einem enthusiastischen Publikum angetrieben. Das im April 2016 eröffnete neue Stadion liegt auf der europäischen Seite am Ufer des Bosporus im Stadtviertel Besiktas, wo die Bindung zum Klub sehr intensiv ist. In der Liga ist die Mannschaft seit 30 Spielen zu Hause ungeschlagen.