19:53 Uhr Ortszeit, Dienstagabend an der Anfield Road. Die Stunde, um Gerry and the Pacemakers' „You'll never walk alone“ anzustimmen, der Moment, den zu erleben Leute aus Singapur, Hindustan und Los Angeles in die alte englische Hafenstadt reisen, und sie wurden auch an diesem Abend nicht enttäuscht. Das Lied wird auch anderswo ergreifend mitgesungen, aber hier ist es zu Hause, hier ist das Original zu hören. Auch die Spieler von Bayer Leverkusen nahmen es im Tunnel, der auf das Spielfeld führt, zur Kenntnis.
Diese Partie galt im Hause Bayer als definitiver Härtetest, eine Klasse über den vorangegangenen, gewonnenen Spielen bei Feyenoord Rotterdam und gegen AC Mailand – wie man in Liverpool sagt: „This is Anfield. This means more.“ Das Testergebnis nach 90 plus drei Minuten war kein gutes, Bayer hielt bloß eine Stunde stand, dann wurde der deutsche Meister mehr oder weniger überrannt von einem professionell zupackenden FC Liverpool. Die Gastgeber feierten schließlich einen 4:0-Erfolg, etwas zu hoch vielleicht, aber das unmissverständliche Resultat drückte schon auch den Klassenunterschied an diesem Abend aus. Liverpool hatte sich nicht überanstrengen müssen, für die Engländer ist es der vierte Sieg im vierten Champions-League-Spiel. Oder wie es Leverkusens Mittelfeldspieler Granit Xhaka im TV-Interview bei Amazon Prime nach dem Spiel ausdrückte: „Man lernt von den Besten.“
Zur Halbzeit hatte es noch verhaltenen Applaus von den Rängen und selbstbewusste Gesänge aus dem Leverkusener Block („Hier regiert der SVB!“) gegeben. Dominiert hatten die Gäste nicht, aber sie hatten sich auch nicht beherrschen lassen. Letzteres lag allerdings auch nicht unbedingt im Interesse von Arne Slot (auf Bannern der LFC-Fans als „Slot Machine“ gefeiert), er hatte sein Team auf Abwarten und Lauern eingestellt. Bayer durfte den Ball haben und aufrücken und sollte dann Fehler machen. Doch Bayer tat dem niederländischen Coach den Gefallen nicht.
Auch Xabi Alonso hatte sein Team nicht dezidiert auf Offensive programmiert. Jeremy Frimpong war auf dem rechten Flügel zwar immer auf dem Sprung nach vorn, doch er bekam selten die Gelegenheit, um durchzustarten. Bayer sicherte lieber mit Vorsichtspässen ab, bevor es sich organisiert zur Offensive in Gang setzte. Zunächst ging es im Übrigen auch darum, die Schüchternheit zu überwinden, die den einen oder anderen Bayer-Profi im Angesicht von Anfield befiel. Florian Wirtz erlebte während der ersten Minuten eine Zeitreise in den Juniorenstatus, es dauerte, bis er in die erste, gewohnt energische Aktion fand.
Mit Exequiel Palacios und Aleix Garcia neben Granit Xhaka hatte Alonso ein breit aufgestelltes Mittelfeld gebildet, auch das eine Sicherheitsmaßnahme, um die beizeiten explosive Liverpooler Spielentwicklung einzubremsen. Solche Szenen gab es in der ersten Hälfte aber nur andeutungsweise, die Hausherren brachten die Abwehr um Jonathan Tah ab und an in Aufregung, richtig böse wurde es selten. Mit Mo Salah beschäftigte sich Piero Hincapié, und das machte er gut, einen Besseren hätte Alonso für die Aufgabe nicht finden können.
Florian Wirtz, die Schlüsselfigur der Offensive, probiert viel, aber ihm scheint der Mut zu fehlen
So war ein Schuss von Cody Gakpo, den Lukas Hradecky kurz vor der Pause routiniert abwehrte, vorerst die prominenteste Torszene. Auf der Gegenseite verlangte Frimpong nach einem Duell mit Virgil van Dijk einen Elfmeter, den Danny Makelie nicht gab – eine niederländische Episode auf englischem Rasen.
Doch in der zweiten Hälfte kam Liverpool allmählich in Fahrt, und unter Druck begann Bayer Fehler zu machen, die gefährlichen Ballverluste mehrten sich. Das 1:0 durch Luis Diaz hatte die entsprechende Vorgeschichte: Curtis Jones erwiderte den Ballgewinn im Mittelfeld mit einem brillanten Steilpass in die Spitze, und der kolumbianische Nationalspieler blieb beim Abschluss cool wie Leutnant Kojak (61.). Bevor sich Bayer 04 gesammelt hatte, lieferte Liverpool das 2:0 gleich hinterher. Flanke Salah, Kopfball Gakpo (63.). Das war schon beinahe der finale Dolchstoß, auch wenn Victor Boniface gleich darauf hätte treffen können.
Ein echtes Aufbäumen der Gäste fand aber nicht mehr statt, stattdessen traf wieder Diaz zum 3:0 (84.) - und schließlich in der Nachspielzeit auch noch zum 4:0. Es war an diesem Abend immer etwas zu wenig vom Ballbesitzfußball, der Bayer zum Meister gemacht hat. Der sonst so kraftvolle Boniface litt an akuter Zweikampfschwäche; Wirtz, die Schlüsselfigur der Offensive, versuchte viel, doch ihm gelang wenig. Oft fehlte einfach der Mut. Er spürte: This is Anfield.