Es gab in der Geschichte Menschen, die bezeugt haben, dass sich Wasser in Wein verwandelt, Tausende durch zwei Brote und fünf Fische gesättigt wurden, Blinde sehen konnten. Wer weiß: Womöglich wird in 2025 Jahren davon die Rede sein, dass 66 000 Seelen an einem kalten Dienstagabend in Madrid erlebten, wie in einem Stadion ein Feuer ausbrach, weil am Boden liegende Nelken Funken schlugen. Nelken? Ja, vielleicht gab Bayer 04 Leverkusen auch wegen ein paar Blumen einen sicher geglaubten Champions-League-Sieg gegen Atlético Madrid aus der Hand: trotz Führung, trotz der Selbstsicherheit spendenden, elf Spiele währenden Siegesserie, trotz lange währender Überzahl. Letztlich infolge von Treffern, die ein Angreifer mit dem Alias „La araña“ erzielte, „die Spinne“ also, und der an diesem Abend tatsächlich gefährlicher war als die gefürchtete südamerikanische Giftspinne Loxosceles laeta. Sein Name: Julián Álvarez, Weltmeister aus Argentinien.
Dass die Partie aus den Angeln gehoben wurde, als wollte sie eine Parabel auf die Welt sein, hatte viel mit Geschehnissen zu tun, die sich rund um die Halbzeitpause abspielten. Dass Linksverteidiger Piero Hincapié nach Flanke von Nordi Mukiele per Kopf zu Leverkusens Führung traf (45.+1), war noch logisch herzuleiten. Leverkusen war wegen der roten Karte gegen Pablo Barrios ab der 26. Minute in Überzahl gewesen und hatte schon vorher „außergewöhnlich, barbarisch gut gespielt“, wie Atléticos Trainer Diego Simeone nach dem Spiel schwärmen sollte. Was aber nach dem Treffer geschah, half den Madrilenen, die Morphologie des Spiels zu verändern, denn es entstand in der Ecke, wo Hincapié unter jubelnden Kameraden begraben wurde, ein Tumult.
Die Anhänger Atléticos fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt, weil die Leverkusener in einer Mischung aus Überschwang, Unachtsamkeit und Unkenntnis jenen Strauß aus roten und weißen Nelken weggetreten hatten, den eine Dame mit dem blumigen Namen Margarita an der rechten Ecke der Südkurve deponiert hatte. Margarita hält das seit 1996 so, als Atlético noch im Estadio Vicente Calderón spielte und Milinko Pantic so gute Standards trat wie heuer Leverkusens Alejandro Grimaldo. Kein Leverkusener schien zu verstehen, was dann geschah: dass das Publikum protestierte, dass Verteidiger José María Jiménez eine Rauferei anzuzetteln versuchte („U-ru-guayo, u-ru-guayo“, rief das Stadion), dass der schwache italienische Schiedsrichter Davide Massa nicht nur Jiménez, sondern auch Nathan Tella verwarnen sollte. Leverkusens Jeremie Frimpong entschuldigte sich am Donnerstag nachträglich für den Tritt. Er habe die Bedeutung der Blumen nicht gekannt.
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Was in der Szene ein bisschen unterging, war eine gelbe Karte, die noch Folgen haben sollte: Auch Hincapié wurde verwarnt und flog später, nach einer weiteren Verwarnung, vom Platz. Später, das heißt: als die Partie den Leverkusenern unter anderem deswegen längst entglitten war, weil das Publikum in Flammen stand.
Nach der Schlacht taugt jeder zum Napoleon, aber Fakt ist, dass Leverkusens Trainer Xabi Alonso in der Halbzeit seine Mannschaft nicht nur dazu anhielt, Kühle und Gelassenheit walten zu lassen, sondern auch anfing, sich in eine Idee zu verlieben, die nicht aufging.

Alonso hatte in der Abwehr vier Innenverteidiger aufgeboten und damit seiner Mannschaft viel Sicherheit gegeben. Doch er opferte einen von ihnen, Mukiele, um Mittelstürmer Patrik Schick aufs Feld zu schicken. „Um Jiménez im Abwehrzentrum zu fixieren, um mehr Strafraumsituationen zu haben, um insgesamt näher an Atléticos Sechzehner zu rücken“, wie Alonso später erklären sollte, als er wusste, dass nichts davon aufgegangen war. Ein schlecht ausgespielter Angriff der Leverkusener landete am Fuß von Antoine Griezmann, der einen langen Ball in die Hälfte der deutschen Gäste schlug. Jonathan Tah verlor das Laufduell gegen Álvarez, und der behielt vor Torwart Kovar die Nerven: Atlético erzielte in Unterzahl das 1:1 (52.).
Leverkusen misslang in der Folge nicht nur, seinem Trainer zu beweisen, dass es bereits gelernt hat, „ein Spiel zu lesen“ und sich auf den größten Bühnen zurechtzufinden: Gegen zehn Madrilenen spielte Leverkusen schlechter als gegen elf.
Für Leverkusen ist nichts verloren, nur der direkte Weg ins Achtelfinale ist schwieriger geworden
„Sie haben das Stadion hochgepusht, wir haben uns provozieren lassen. Am Ende haben sie es geschafft. Das tut extrem weh“, sagte Tah. Simeone hatte seinen Spielern in der Halbzeit gesagt, wer alles beim Gegner verwarnt war, und ihnen aufgetragen, sie besonders zu reizen. Auch Alonso haderte damit, dass seine Mannschaft die Solidität aus der ersten halben Stunde vermissen ließ, dass das Gespür verloren ging, und dass „Atlético Luft bekam und das Spiel dorthin zerrte, wo sie es haben wollten“, wie Alonso sagte. Nach der erwähnten zweiten Verwarnung für Hincapié (76.) war das endgültig der Fall; sie sollte der Vorbote des zweiten Tores von Álvarez sein. Es bedeutete nicht nur den 2:1-Endstand in der Nachspielzeit, sondern roch auch nach Weltklasse.
Nichts ist für Leverkusen verloren, im Gegenteil; nur der direkte Sprung ins Achtelfinale ist nicht mehr sicher. „Wahrscheinlich werden wir die Play-off-Runde spielen müssen“, errechnete Alonso. Atlético hingegen hat es komplett in der eigenen Hand, ohne Zwischenstopp in der Runde der letzten Sechzehn zu landen – und sich einen Schritt näher am Finale in München zu wähnen.