Champions League:Ganz Italien drückt Bergamo die Daumen

FILE PHOTO: Serie A - Atalanta v Inter Milan

Immer weiter, von Runde zu Runde: Atalanta Bergamo steht im Viertelfinale der Champions League

(Foto: REUTERS)

Der ganze Kader von Atalanta verdient weniger als Neymar - gegen den das Team im Finalturnier der Champions League nun antritt. Dem kleinen Klub aus der pandemiegeplagten Provinz fliegen die Sympathien zu.

Von Oliver Meiler, Rom

Alles in einem Jahr, Trauer und Triumph, das große Drama und eine kleine Freude. Wer ein Herz hat und nicht gerade Pariser ist, der wünscht Bergamo Glück, alles Glück der Welt, vielleicht sogar den Henkelpokal der Champions League. Man soll ja nicht allzu viel Außerfußballerisches in den Fußball hineininterpretieren oder Spiele überhöhen zu Metaphern für das Ganze. Das ist selten gut. Diesmal schon.

In der bisher schlimmsten Phase der Pandemie hat Italien mit Bergamo gelitten und um seine vielen Toten geweint, nun sitzt das Land gewissermaßen kollektiv im Estádio da Luz. Juventus Turin und SSC Neapel sind ausgeschieden, da begeht also niemand Treuebruch. Aber Atalanta Bergamo ist eben auch eine Herzenswahl. Es ist der kleinste Verein in Lissabons Finalturnier, der überraschende Teilnehmer an diesem sonderbar zusammengezurrten Wettbewerb, sicher der sympathischste, originellste, verdienteste. Es ist der Verein einer einzigen Provinz, stolz verwurzelt, der in normalen Zeiten nur Fans daheim hat. Ein Verein ohne lange Ruhmesliste; eine Coppa Italia wurde gewonnen, mehr nicht, und das liegt 57 Jahre zurück. Italienischer Meister war Atalanta noch nie, höchstens Meister in der Serie B, der zweiten Liga. Ein Verein ohne große Namen: Die Mannschaft kauft der Klub sich für wenig Geld in kleineren Ligen zusammen. Den Größenvergleich illustriert ein Beispiel: Der Kader von Atalanta verdient insgesamt weniger als Neymar Junior, der brasilianische Starspieler von Paris Saint-Germain, dem Gegner im Viertelfinale an diesem Mittwoch.

Atalanta also. So heißt eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, Tochter von Klymene und Iasos. Jene fünf bergamaskischen Jugendlichen, Absolventen eines klassischen Gymnasiums, die den Verein 1907 gegründet haben, waren beseelt von diesen Dingen aus der Antike. Und Atalanta war schön, stark, mutig, eine Jägerin. Ihr Vater hatte sie in der Wildnis ausgesetzt, er hätte eben lieber einen Sohn gehabt. Sie wuchs mit Wölfen auf. Ihr Kopf ziert das Wappen des Klubs, mit wallendem Haar. Dea, das italienische Wort für Göttin, steht als Synonym für den Verein.

"Gegen Atalanta zu spielen, ist wie zum Zahnarzt gehen", sagt Pep Guardiola

Aber so eine Figur göttlicher Abstammung aus der Antike garantiert eben noch keinen Erfolg. Atalanta stieg ständig ab und auf, eine Liftmannschaft, routiniert im Graubereich. 2010 war es wieder so weit: Serie B, ein Höllensturz. Niemand konnte ahnen, dass nun eine andere Zeit beginnen würde, eine Epoche. Allerdings, ein Anzeichen gab es da schon. Antonio Percassi hatte den Verein gerade übernommen: ein Bergamaske also, früher ein grätschfreudiger Verteidiger von Atalanta, dann wurde er Großunternehmer, Milliardär, nun ist er die Nummer 36 auf der Liste der reichsten Italiener. Sein Geld hatte Percassi mit Immobilien, Einkaufszentren und Kleidern gemacht. Er brachte auch viele internationale Marken nach Italien: Zara, Victoria's Secret, Lego, zuletzt Starbucks.

Als Percassi die Mannschaft von Atalanta für seine erste Saison vorstellte, baute er dafür eine Bühne auf vor der Curva Nord, der Kurve der Ultras, und beschwor die Fans, sie möchten doch alle ins Stadion bringen, Kinder, Frauen, Mütter, Väter. Voll müsse es sein, immer, damit die Gegner Angst hätten.

Ein Motivationstraining war das, die alte Leier. Die Bilder aber hob man sicherheitshalber auf, sie sind nun Teil einer kleinen Fernsehserie, drei Folgen, je fünfzehn Minuten: "Da Zero a Champions", Von null zu Champions. 2017 kaufte Percassi der Stadt das kleine Stadio Atleti Azzurri d'Italia ab, es heißt jetzt: Gewiss Stadium. Er baut es um, Stück für Stück, damit es irgendwann einmal den Vorgaben der Uefa genügen wird. Bisher musste der Klub für Heimspiele in der Champions League nach Mailand ausweichen, ins San Siro. Die Curva Nord ist schon fertig, an der Curva Sud arbeiten sie gerade. Ohne eigenes Stadion macht ein Verein nur leidlich Kohle, und Percassi ist schließlich Unternehmer.

Sportlich revolutionär aber war ein anderer Beschluss, ein Jahr vor dem Stadionkauf, am 14. Juni 2016, ein Datum für die örtliche Geschichtsschreibung. Der Verein holte Gian Piero Gasperini als Trainer, einen Mann mit viel Erfahrung und durchzogenem Ruf: Seine Umgangsformen sind legendär krude. Manche Trainerkollegen der Serie A grüßen ihn nicht mehr, nachdem er sie dumm angegangen hat, auch an der Seitenlinie. An seinem Können zweifelt indes niemand mehr. Der Turiner, der lange als Jugendtrainer bei Juventus gearbeitet hatte, ist ein Freund des "totalen Fußballs", holländische Schule, und gilt allgemein als ein Guardiolista.

Gasperini, heute 62 und Ehrenbürger Bergamos, formte aus Atalanta einen Chor, in dem alle ständig die Rollen wechseln. Auf dem Papier sieht es nach einem 3-4-1-2 aus, mit dem 1,65 Meter kleinen Argentinier Alejandro "Papu" Gomez als Regisseur hinter den beiden kolumbianischen Spitzen, Duván Zapata und Luis Muriel. Doch immer stürmt auch mindestens ein Verteidiger mit, dazu die zwei schnellen Flügelläufer für die Überzahl. Die Abwehr der Gegner soll möglichst ins Chaos gestürzt werden. Natürlich ist das riskant, Atalanta ist dann auch grotesk konteranfällig. Aber was für ein Spektakel, was für ein Drang nach vorne!

Gasperini ändert nie viel an seiner Spielidee, egal, wer der Gegner ist. "Gegen Atalanta zu spielen, ist wie zum Zahnarzt gehen", sagte Pep Guardiola neulich, als sein hoch dotiertes Team, Manchester City, in der Gruppenphase gegen die Bergamasken nur ein 1:1 holte: "Du leidest immer." In Bergamo empfanden sie diese Worte wie die Adelung ihres behutsam gepflegten Gesamtprojekts.

Die Nachwuchsarbeit in Zingonia, wo das Trainingszentrum von Atalanta steht, galt immer schon als eines der besten Italiens. Dort wachsen Spieler heran, deren Karteikarten dann den blasierteren Vereinen der Serie A viel Geld wert sind. Atalanta verkauft in der Regel teuer und kauft dann billig, seit Jahren schon. Extravaganzen leistet man sich nur, wenn es wirklich nötig ist. Chefscout und Sportdirektor Giovanni Sartori ist darin so gut, dass die Spielphilosophie auch mit immer neuen Figuren auf dem Feld einfach weiterdreht. Auf höchstem Niveau, aus dem Nichts.

Wer hatte zum Beispiel von Robin Gosens gehört? Einem Profi aus Emmerich am Rhein, Jahrgang 1994, linker Außenverteidiger, als ihn Atalanta vor drei Jahren für 300 000 Euro vom holländischen Verein Heracles Almelo holte. Nun spielt er immer, auch Königsklasse, stiftet Chaos in gegnerischen Abwehrreihen, erzielt Tore wie nie zuvor. Gosens ist zum Paradebeispiel des Modells geworden. Er spricht gut Italienisch, auch ein paar Brocken Bergamaskisch, für die Serie "Da Zero a Champions" wählten sie ihn aus als Kommentator. Da fließt alles zusammen, als gehörte es natürlich zusammen. Nichts ist Retorte.

Wenn in Bergamo und seiner Provinz, der Bergamasca, ein Kind zur Welt kommt, Mädchen oder Bube, dann erhält es als Erstes ein Trikot von Atalanta. Umsonst, eingepackt in eine kleine, weiße Kartontüte mit einem Storch drauf. Die Hebammen bringen das Geschenk in den ersten Momenten des Glücks, wenn das Kind auf der Brust der Mutter liegt. Seit 2010 ist das so, Percassi nannte seine Initiative Progetto Neonati Atalantini, Projekt Atalantinische Neugeborene. Allein in der Klinik Papa Giovanni XXIII., dem großen Krankenhaus der Stadt, sind so schon etwa 36 000 kleine Menschen eingekleidet worden, schwarzblau mit Längsstreifen.

Eine famose Unternehmeridee: von der Nabelschur der Mutter direkt in die Arme der Göttin mit dem wallenden Haar, der Dea. So bindet man das Volk an das Schicksal des Vereins. "Als Bergamaske kannst du gar nicht anders, als Atalanta zu lieben", sagt Percassi. In diesem Jahr braucht man dafür nicht einmal Bergamaske zu sein.

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