Halbfinale der Champions League:Ajax erwacht aus dem Rausch
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Von Benedikt Warmbrunn, Amsterdam
Ausgestreckt lagen die Spieler von Ajax Amsterdam auf dem Rasen, lange rot-weiße Striche, und sie sahen, wie grüne Pfeile an ihnen vorbei zischten, die Spieler von Tottenham Hotspur. Sekunden hatten Ajax zum Finale gefehlt, um sich ihren Traum zu erfüllen. Dann ging der Ball noch einmal auf das eigene Tor, wie so oft an diesem Abend, so oft war es gut gegangen. Wieder hatte Lucas Moura geschossen, zweimal hatte er schon getroffen.
Nun ging es nicht gut. Der Ball landete im Tor von Ajax.
Es war das intensive Ende eines intensiven Spiels am Mittwochabend im Halbfinale der Champions League, Ajax Amsterdam zeigte nur selten seinen flinken Kurzpassstil auf engem Raum, dafür verteidigte der Gastgeber unermüdlich. Tottenham war wie im Hinspiel zunächst zu passiv, dann aber drückten die Gäste, sie glichen aus, und sie ließen nicht nach. Durch das Tor zum 3:2 (0:2) in fast letzter Sekunde spielt Tottenham nun im Finale gegen den FC Liverpool.
Zum ersten Mal in dieser K.-o.-Runde war Ajax mit einem Sieg ins Rückspiel gegangen, viel war in den Tagen zuvor hineininterpretiert worden in diese Ausgangssituation, vielleicht würde diese junge Mannschaft ja dem Druck nicht standhalten, vielleicht würde sie ja aufwachen aus diesem träumerischen Rausch, in den sie sich in den vergangenen Wochen gespielt hat.
Sie wachten auf. Spät. Und umso härter.
Schon beim 1:0 im Hinspiel in London hatte Ajax sich eine Stunde lang von einer bis dahin in Fußballeuropa unbekannten Seite gezeigt, als abgezockt verteidigende Elf. Auch das Rückspiel gingen sie teilweise routiniert an, falls das für so eine junge Mannschaft überhaupt möglich sein sollte. Ajax setzte weiter diese spielerischen Glanzmomente, aber die Mannschaft dosierte sie, sie hatte keine Eile zu zeigen, dass sie auch als Favorit einen eleganten, leichtfüßigen Fußball spielen kann. Und sie verteidigte und verteidigte und verteidigte. Und doch reichte es nicht.
Kurz vor dem Anpfiff hatte Ajax-Trainer Erik ten Hag eine Nachricht erhalten: David Neres, der linke Flügelspieler, musste passen, wegen Achillessehnenproblemen. Dadurch musste ten Hag so umstellen, dass sich die Spielanlage entscheidend veränderte. Auf die linke Seite rückte Dusan Tadic, der bisher in der K.-o.-Runde als Angreifer agiert hatte, allerdings nur in weiterem Sinne: Eigentlich war er überall unterwegs gewesen. Nun also spielte er auf der linken Seite, wie auch gelegentlich in der heimischen Liga; in die Sturmspitze rückte Kaspar Dolberg, der die Position so interpretiert, wie so nun einmal ein Mittelstürmer interpretiert: Er bewegt sich zwar auch viel, aber eigentlich will er, bitteschön, vorne die Bälle serviert bekommen.
Bereits in der vierten Minute zeigte sich, dass diese veränderte Aufstellung an diesem Abend ein Vorteil sein konnte: Tadic dribbelte von der linken Seite in den Strafraum hinein, sein Schuss wurde abgefälscht, Spurs-Torwart Hugo Lloris wehrte den Ball zur Ecke ab. Den Eckball übernahm Lasse Schöne, er schlug eine präzise Flanke auf den Kopf von Kapitän Matthijs de Ligt, die Führung (5.).
Ajax führt eine flexible Verteidigung vor
Anschließend demonstrierte Ajax das, was das Team schon im Hinspiel vorgeführt hatte: dass die Mannschaft ein Spiel auch ohne den Ball kontrollieren kann. Tottenham hatte mehr Ballbesitz, nur eine Minute nach der Führung traf Son Heung-min mit einem frechen Schuss den Pfosten. Doch ansonsten blieben die Gäste zunächst harmlos. Die Elf von ten Hag führte eine flexible Verteidigung vor, mal über das gesamte Spielfeld hinweg gestaffelt, mal am Strafraum zusammengezogen, dazwischen seltene, meist leichtfüßige Angriffe. Besonders schnell ging es in der 35. Minute: Donny van de Beek dribbelte auf drei Gästespieler zu, er passte nach links, zu Tadic, der spielte den Ball zurück in die Mitte, Ziyech schloss den Angriff mit einem sehenswerten Schuss ab, das 2:0.
In der zweiten Halbzeit hatte Ajax weiterhin nur gelegentlich den Ball, doch nun hatte der Gastgeber auch endgültig nicht mehr die Kontrolle über die Partie. In der 53. Minute rettete André Onana mit einem starken Reflex gegen Eriksen. Zwei Minuten später konterte Tottenham den naiv angreifenden Gastgeber aus, Lucas Moura erzielte den Anschlusstreffer. Ajax wirkte nun geschockt, sie wirkte nun: wie eine junge Mannschaft, die aus einem surreal schönen Traum aufgewacht ist. In der 59. Minute klärte Onana erst zweimal gegen den eingewechselten Fernando Llorente, doch dann konnte er den Ball nicht sichern, Schöne und er behinderten sich gegenseitig. Moura nutzte die Unsicherheit aus, der Ausgleich.
Ajax hatte dann noch wenige Momente der Entlastung, Ziyech hätte das Spiel wohl schon für Ajax entscheiden können, erst verfehlte er das Tor (63.), dann traf er den Pfosten (79.). Doch die Mannschaft, die noch kräftiger, willensstärker, wuchtiger auftrat, das war Tottenham.
Dann ging der Ball noch ein letztes Mal auf das Tor von Ajax Amsterdam. Er landete im Netz. Ein Traum zerplatzte. Ein anderer geht weiter.